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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1913)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0607

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die Möglichkeit zu einem nicht alltäglichen Linblick in das Seelenleben
des Proletariers. Das mag mich rechtfertigen. Ich bemerke noch, daß ich
keineswegs Marxist bin: Ich glaube mich dem Volke gegenüber zwar zu
mancherlei Opfern bereit, nicht aber zu dem meines Intellekts. Gerade
dies Opfer würde aber von mir das Bekenntnis zum Marxismus ver--
langen.

Auf der Flucht

^vv^-an sollte meinen, für den, der heute aufgeklärt um sich und ins Leben
^^schaut, seien eiserne Nerven vonnöten. Woher sollen die aber kommen?
Niemals vorher ist unser Lmpfindungsvermögen, unsre seelische Anpas--
sungssähigkeit ärger überspannt worden: früher nahm der Mensch Anteil
bloß an den Schicksalen seines Heimatortes, heute sind wir, dank einer
Vervollkommnung in der Gedankenübermittlung und im Personenverkehr,
die gar nicht vorauszusehen war, und die rascher kam, als wir die An--
forderungen begrisfen, die sie uns auferlegte, gezwungen, teilzunehmen
an den Menschenlosen aus der ganzen Welt. Wir lesen da morgens
beim Kaffee aus allen sünf Weltteilen von unhaltbaren sozialen Äbel--
ständen und von furchtbaren Unglücksfällen. Nnd wir meinen dann,
wir haben das alles vergessen, wenn wir die Zeitung beiseitelegen. Dabei
hat aber unser Bewußtsein in seiner blitzartigen Arbeitsweise, die uns
vertiefte Einsicht in das Wesen der Hypnose erwiesen hat, bereits eine
bis in die Linzelheiten vollständige Vorstellung ausgearbeitet jedes ein--
zelnen Äbels, über das uns auch nur ein paar Zeitungszeilen berichteten.
Diese Vorstellungen bleiben zwar aus dem Nntergrunde des Bewußtseins.
Bei den Nichtkünstlern unter uns treten sie wohl auch nie an seine Ober--
släche — in ihrer Anhäufung lösen sie aber jenen Weltschmerz aus,
dem sich auch der Lebemann heute nicht zu entziehen vermag, und der
ihn stets dann befällt, wenn er einmal zu tzause sitzen muß. Kennzeichnend
für diesen Zustand unsrer Seele, die zerrissen ist, ohne daß wir das ahnen,
ist vor allem das moderne Vergnügen: es stellt in letzter Hinsicht nichts
anderes dar als organisierte Gewissensslucht, als unsern systematischen
Versuch, davonzulaufen vor unsrer Verantwortung. Nnd die uns behilslich
sein müssen dazu, die Sklaven und Sklavinnen unsres Vergnügens, die
zwingen wir dazu, ihr eigenes Elend zu verbergen und uns vorzulügen,
diese Welt sei eitel Sonnenschein und Rosenduft. Mit solchen Lügen und
Kindereien ersüllen wir den Bewußtseinsraum, den unser Berus nicht
beansprucht, und dann wähnen wir, entslohen zu sein vor dem Llend unserer
Mitmenschen.

Angesehen aber sitzt es ties in unserer Seele, das Leiden unsrer Mit-
menschen, dem wir die Teilnahme verweigerten: auf tausend Schleich-
wegen drang es in unsere Brust: durch die Zeitung, durch die Gesichter
der Menschen, die wir anschauen mußten, um ihnen ausweichen zu können,
durch irgendein Wort, das wir ausfingen im Vorübergehen, ja durch
unsre Vergnügungen selber. Denn man will uns ja vornehmlich dadurch
zum Lachen bringen, daß man uns an das erinnert, was eigentlich zum
Weinen ist: an menschliche Dummheit und an menschliche Schlechtigkeit.
Betrogene und Betrüger führt man uns vor, ausnahmslos Leidende,
wenn man uns heiter stimmen will. And wir verziehen auch pslichtgemäß
zu alledem unser Antlitz und meinen Lebemänner zu sein oder wenigstens
moderne Menschen, die das Leben kennen und sich frei wissen von jeder
Sentimentalität. Aber das Llend unsrer Mitmenschen, dem wir unsre

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