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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1913)
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Lose Blätter
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0608

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Teilnahme verweigern wollten, und das sich doch einschlich auf tausend
geheimnisvollen Pfaden in unsere Seele, es sitzt ungesehen dort und
wartet, bis es einmal stille wird in uns und um uns herum, bis wir
einmal still halten müssen unserer Seele und nicht mehr davonlaufen
können uns selber, bis wir einmal gezwungen sind, in uns selber zu
schauen, weil uns jeder andere Ausblick verwehrt ward. Das klingt
mystisch, und doch brauchen wir bloß hinzublicken auf die zunehmende
Verflachung unserer Bühnenkunst, auf die offenbare Bevorzugung des
Varietss, Kinematographen und Zirkus vor der ernsten Bühne. Rnd
wenn wir bei den ebenso märchenhaft prunkvollen, wie märchenhaft albernen
Londoner Pantomimen die Männer des praktischen Lebens sitzen sehen
mit ihren versteinerten Gesichtern, so spielt sich hier, im Zuschauerraum
freilich, die eigentliche Tragödie unsrer Zeit ab: unser vergebliches Be-
mühen, das Llend unsrer Mitmenschen zu vergessen, unser Verzweiflungs-
kampf darum, ihm nicht ins Gesicht sehen zu müssen, und die elementare
Gier, in der wir nach jeder Lumpigkeit greifen, nach jedem Strohhalm,
um ihn -zwischen uns und das Elend unserer Mitmenschen zu stellen.
Welträtselerklärer — und an ihnen ist kein Mangel heute — haben ein
Syftem gemacht aus unsrer Angst vor dern Anblick des sozialen Elends:
sie verkündigen, unsre Zeit habe wichtigere Kulturaufgaben vor sich. Die
technische Welteroberung vertrage sich mit keiner Sentimentalität, und
was noch mehr derartige Worte sind. Sie belügen aber bald nur noch
sich selber mit all ihren Plattheiten, die Welträtselerklärer, von denen
heute unser Alltag wimmelt.

Dieser elementare Drang nach Gewissensslucht hat auch seinen Abdruck
gedrückt aus die Dinge, die uns umgeben. Darum ist so vieles in
unrettbare Häßlichkeit getaucht um uns herum (denn es gibt nur eine
Schönheit, und die ist aufrichtig): noch nie war die unentrinnbare Schön-
heit aller Dinge mehr beleidigt, nie mehr verhüllt durch ängstliche Lügen,
die Schönheit, die alle Dinge mitbringen aus dem Schoße des Schöpfers.
Darum hat man auch zu keiner Zeit mehr von Schönheit gesprochen als
in unsern Tagen, und in keiner Zeit hat man die Dinge, die wir nicht
entbehren können, mehr mißbraucht dazu, uns zu bestärken in unserer
Lüge, in unserer Angst vor der Wahrheit: aus unseren verlogenen Stuck-
fassaden, aus unsern palastartigen Restaurants, die Tempeln nachgebildet
sind und den Geruch öffentlicher Häuser nicht verleugnen, aus den protzigen
Auslagen unsrer Läden, von überall her sieht uns dasselbe verlogene
Grinfen entgegen: „Siehst du denn nicht, wie schön das Leben ift? Siehst
du denn nicht, wie alles getaucht ist in eitel Sonnenschein? Siehst du
denn nicht, daß, so wie du bist, als ein kurzsichtiger Protz, du gerade
hineinpaßt in diese Welt?" Freilich schwingen noch einige Untertöne mit
in dem steinernen Schreien unserer Großstädte; die hört aber nur der,
für den dies alles nicht da sein soll. Dem zischelt es zu: „Du bist arm,
und darum verachte ich dich, und darum sollst du dich überhaupt ver-
stecken!"

Wenn die Vorkämpfer unseres modernen Kunsthandwerks wüßten, was
sie eigentlich wollen, so würden sie sagen: „Wir suchen für die Dinge,
die uns umgeben sollen, Formen, die uns nicht daran erinnern, daß
es Arme und Reiche gibt auf dieser Erde; denn wir wollen ausruhen
zu Hause. Wir suchen Formen, die uns nicht ins Gesicht schreien, daß
wir den Armen verachten; denn wir wollen das vergessen. Wir suchen

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