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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0083

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rade lebt; aber rnerkwürdig bleibt
es doch, daß er dem Anschauungs-
gehalte des allgemeinen Menschen-
lebens so sehr entsremdet werden
kann.

Kaum irgendwo sonst wird uns
die trennende Krast moderner Ar-
beitsteilung so überraschend deut-
lich, wie bei der Betrachtung der
Bilder in der menschlichen Sprache.
Man glaubt meist, es gäbe einen
allgemein menschlichen „Fundus" des
Lebens, einen gemeinsamen Stamm
in dem weitverzweigten modernen
Getriebe, an dem jeder Teil hat und
der die unheimliche Mannigsaltigkeit
verbindet. Die Sprache des All-
tags scheint dessen unmittelbarer
Ausdruck zu sein. Aber das ist
wohl Täuschung. Denn selbst in
der Poesie sindet man heute nicht
mehr jene allgemein menschlichen
Bilder und Vorstellungen; auch die
Sprache unserer modernen Dichter
ist eine Fachsprache, die ihre tsr-
mini tsebniei hat wie unsere Wis-
senschasten. Sie erinnert mich sehr
an eine besondere Ausgestaltung der
Psychologie. Hält doch der moderne
Dichter die früher allgemein geläu-
fige Vorstellung vom Sonnenunter-
gang in der heutigen Zeit der Groß-
stadtkultur nicht mehr sür an sich
verständlich und sieht sich demgemäß
genötigt, bei der Beschreibung des
so merkwürdigen Phänomens zu
dem Bilde inbrünstiger Sehnsucht
zu greisen. Oder der heiße Son-
nenstrahl wird mit Leidenschaft und
heftigem Verlangen, die stille Nacht
mit dem Frieden der Seele ver-
glichen. Früher war's genau um-
gekehrt, da hielt man Naturereig-
nisse für bekannte Dinge, überhaupt
alles, was mit den Sinnen faßbar
war, und benützte diese Vorstellun-
gen zur Erläuterung seelisch-geistiger
Vorgänge; die sinnliche Welt diente
in Poesie und Wissenschaft als Bild
einer übersinnlichen Welt.

Die Welt wandelt sich oft wun-

derbar. Heute verdeutlichen wir das
Faßbare durch das Nnfaßbare, weil
uns augenscheinlich das Nichtwirk-
liche näher liegt als die Natur, so
wie sie den Sinnen gegeben ist.
Früher gab es eine allgemein ver-
ständliche Sprache, weil sie Aus-
druck der eineu sinnlichen Welt war,
und diese Sprache war Gemeingut
aller, so wie es die Natur war.
Nun gibt es ebenso viele Spra-
chen wie verschiedene Arbeitsgebiete,
und jede ist nur aus einen engen
Kreis beschränkt. Nnd während sich
einst jeder bemühte, seine eigenarti-
gen Erlebnisse in den Bildern der
allgemeinen Sprache auszudrücken,
damit sie auch allen zugut kämen,
strengt man sich heute an, jenen
allgemeineu Kulturbesitz in die be-
sonderen Sprachen der Fächer zu
übersetzen. Es ist, als ob ein Gott
voll Zorn über unsere Fortschritts-
arroganz eine zweite Sprachverwir-
rung gestistet hätte, über die uns
kein Lsperanto hinweghilft.

Friedrich Müller

„Goethes Verurächtnis" ?

in Buch von zweihundertfünfzig
Seiten nennt sich mit den klang-
vollen Worten der Aberschrist. Eine
Frau, Else Frucht, hat es ge-
schrieben, in dem jungen Delphin-
Verlag ist es zu München erschie-
nen, und schön ausgestattet und mit
liebenswürdigem Bildschmuck für
vier (gebunden fünf) Mark bekommt
man es. Da es sich überdies noch
„eine frohe Botschaft" nennt, hat
man natürlich als streng denkender,
auss Geistige gerichteter Mann
gegen die hierunter zu vermutende
Erbaulichkeit eine apriorische Ab-
neigung. Die Schrist beginnt denn
auch unter beträchtlicher Zitiersenti-
mentalität mit einer recht abschrek-
kend engsinnigen Berufung auf das
„tiefere Gefühl" der Frauen gegen-
über dem „stärkeren Verstand" der
Männer. Kritischer Berufeifer schluckt

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