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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1913)
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Walzel, Oskar: Georg Büchner: (Geb. 17. Oktober 1813)
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0141

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zu widersprechen scheint, nimmt sich auf der Bühne selbst gar nicht so
schlimm aus. Sorglich schleifen ja die Spielleiter alle überscharfen Spitzen
einer Kunst ab, die manchem von vornherein wie Ankunst erscheint, weil
sie schier absichtlich auf Verletzen und Zerstören ausgeht. Das Wesent-
liche aber könnte auch die vorsichtigste Bearbeitung nicht entfernen, wenn
anders Dramen der Richtung Eulenbergs nicht gänzlich verballhornt zur
Aufsührung kommen sollen: die grauenerweckende Deutlichkeit, mit der
menschliches Dasein, menschliches Fühlen und Wollen in Augenblicken
erfaßt wird, da ein tierischer Drang alle sittliche Selbstbestimmung über
den Haufen wirft. Es sind die Augenblicke, in denen der Mensch sich
selbst nicht gern sieht und noch weniger gern sich beobachtet fühlt. Darum
verdenkt er es auch dem Dichter, daß er sie festhalten, noch mehr daß er sie
mit Strichen von überwältigender Schärfe und grellster Kontrastwirrung
dem Leben nachzeichnen, ja durch solche Striche die leiser abgetönten
Farben des Lebens noch überbieten will. Büchners „Wozzeck" weist durchaus
diese Neigung. Die überknappe Tragödie ist ein unvollendetes Bruchstück
und wurde nur mühsam von K. E. Franzos nach einem kaum leserlichen
Skizzenblatt entziffert. Gleichwohl dürften die entscheidenden Szenen in
endgültiger Form vorliegen. Sie erzählen eine alte Geschichte mit Mitteln
ganz eigener und neuer Art: das Soldatenliebchen hintergeht ihren Schatz
mit einem schönen Tambourmajor und der Betrogene ersticht sie. Menschen
von stumpfem Denken, von heißem Blut, von wilder, betörender Hitze,
rasch der Verzweiflung hingegeben, unfähig die vernichtende Tat zu über-
legen, zu der es sie schier unwiderstehlich treibt. Augenblicke, in denen
urplötzlich ein Menschenschicksal sich entscheidet. Ein blühendsinnliches Weib,
das der Vater ihres Kindes noch nicht hat wieder ehrlich machen können
und das seinen begehrenden Blick von dem anderen, dem Kraftkerl, —
„über die Brust wie ein Rind und ein Bart wie ein Löwe" — nicht abzu-
wenden vermag. Lr umfaßt sie, sie ruft „Laß mich!", er: „Wildes Tier!",
sie darauf heftig: „Rühr mich nicht an!" Und gleich drauf heißt's bei ihr
nur noch: „Meinetwegen. Es ist alles eins!" Der Betrogene erfährt es.
Stier und starr und wie im Taumel tritt er vor die Verräterin und
wagt doch nicht, sie zu schlagen. Aber töten will er sie. Zu sehen glaubt er,
wie der andere an ihr herumgreift, an ihrem Leib, nnd wie sie dazu lacht!
Er lockt sie, da es dunkelt, zum Teich. Er höhnt sie: „Fürchtst dich, Marie?
Und bist doch fromm? And gut! Und treu!" Nnd doch muß er sie
küssen: „Was du für süße Lippen hast, Marie! Den Himmel gäb ich drum
und die Seligkeit! wenn ich dich noch oft so küssen dürft." Dann stößt
er ihr mit einem „Ich nicht, Marie! und kein anderer auch nicht!" das
Messer in den Hals. Im Wirtshaus will er sich betäuben, doch die Blut-
spuren verraten ihn. Toll vor Angst flieht er nach dem Teich, in dem die
tote Geliebte ruht. Das Blut will er sich abwaschen und er ertrinkt. Das
Ganze wirkt wie ein dramatisiertes Volkslied. Büchners Neigung, Volks-
liedverse einzuflechten, steigert den Eindruck. Volksballadenartig ist aber
vor allem das Sprunghafte der Darstellung. Die Szenen sind kurz, sie um-
fassen oft nur wenige Zeilen. Iede neue Szene führt an einen neuen
Ort. Ein paar Dialogworte vergegenwärtigen die Lage. In ein paar
Zeilen zusammengedrängt, zusammengeballt sind die schicksalsträchtigen Aus-
rufe der Menschen, die ihrem Verhängnis zutreiben. So ungesähr schrieb
der junge Goethe die Prosaszenen seines Nrfausts; noch näher verwandt sind
einzelne Auftritte der Tragödien von Lenz, etwa der „Soldaten". Mit

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