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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 2 (2. Oktoberheft 1913)
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Schmidt, Leopold: Giuseppe Verdi
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0144

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logisch und aus innerer Notwendigkeit entwickelt, und jedes seiner Werke
ist in diesem beständigen Flusse das Ergebnis früherer, die Quelle späterer
Schöpfungen. Für uns jedoch verdichten sich die Wandlungen eines so
langen Lebenslauses — Verdi, der ein Alter von 37 Iahren erreichte, war
5^ Iahre hindnrch für die Bühne tätig — an den entscheidenden Wende-
punkten zn greifbaren Merkmalen, nach denen wir ihn, ohne den Tat-
sachen Zwang anzntun, der Zeitgeschichte einordnen dürfen.

Die Iugendopern des Meisters vom „Oberto" (s829) bis znm „Stiffelio"
((850) haben nur noch hiftorisches Interesfe, mögen einige von ihnen, wie
„Nabucco", „I Lombardi" und „Ernani", auf italienischen Bühnen auch
hier und da noch erscheinen. Für ihre Erfolge kamen neben national-
künstlerifchen sehr wesentlich politische Motive in Betracht. Es war die
Zeit, in der Italien sich nach Freiheit und Einigkeit sehnte, die
erregte Volksstimmung fand in der kraftvollen und kecken Musik des
jungen Verdi einen wunderbaren Ausdruck. Wir können uns heute, und
zumal wir Deutschen, keinen Begriff von der Wirkung jener Werke machen,
die nicht felten auch textlich dem unterdrückten Nationalgefühl geheime
Ventile öffneten. In Rom kam es bei einer Aufführung des „Ernani" zu
stürmifcheu öffentlichen Kundgebungen. Man gestaltete den Gesang „X
6Ärlo ()uinko sia. §1oria. o onors" in eine Ovation für Papst Pius IX.
um, in dem man damals den kommenden Retter erblickte. Die Damen
warfen farbige Bänder und Blumen auf die Bühne und ins Orchester.
In den Anspielungen auf Freiheit und Vaterland sah das Publikum
einen Vorwand, seine revolutionären Gefühle gefahrlos zu äußern. Ähn-
liche Szenen wiederholten sich im Argentina-Theater, als (6V die „Schlacht
bei Legnano" gegeben wurde. Die Herzöge von Parma und Modena waren
vertrieben, die Osterreicher gezwungen, Mailand und Venedig zu räumen.
Worte wie „Hervor mit den Fahnen, die Waffen in die Hand" fchlugen
zündend ein. Man erzählt sich, daß ein Soldat, der auf der Galerie
saß, beim Anhören der Verdischen Musik, deren aufwiegelnde Rhythmen
die Spannung lösten und die Leidenschaft stachelten, und die wie ein
Widerhall der politischen Gedanken des Volkes wirkte, vor Fanatismus
den Säbel auf die Bühne geworfen und fich die Kleider vom Leibe ge-
rissen habe. So wurde Verdi, ohne es zu wollen, in die Bewegung des
politischen Lebens gezogen, dem er übrigens auch als Mitglied des ersten
Parlaments und als „Senator" angehörte. Ganze Akte seiner Opern
wurden damals cka eavo verlangt- man berauschte sich an seiner Musik und
wurde nicht müde, dem Meister zuzujauchzen. Sein Name wurde volks-
tümlich. „Lvviva Vsrcki" war bald das Losungswort für die patriotische
Erhebung der Menge, die es für ein gutes Omen hielt, daß die Initialen
ihres ersten Königs (Vittorio Lmannols Its ck'Italia) den geliebten Namen
Verdi ergaben.

Noch etwas anderes kam hinzu, seinen Opern dieser Epoche, wenigstens
in Italien, eine tiefgreifende Wirkung zu sichern. Das war die künstle-
rische Lrneuerung, die Verdi hervorbrachte. Er ist in gewissem Sinne
ebenso revolutionär aufgetreten wie Wagner innerhalb der deutschen Oper.
Die glänzende Epoche der Rossini, Donizetti, Bellini war abgeschlossen
und hatte trotz ihres Blütenreichtums die italienische Oper als dramatisches
Genre dem Verfall nahegebracht. Die Musik hatte bei diesen Meistern eine
zu dominierende Rolle behauptet, die Textdichtung war zur lächerlichen
Schablone herabgesunken. Ihre Nachahmer verflachten namentlich in der
 
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