Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1913)
DOI Artikel:
Stapel, Wilhelm: Gneisenau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0158

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Das zweite ist seine völlige innere Freiheit. Sie scheint in einer
innigen Religiosität zu wurzeln. Zwar kann keine Konfession Gneisenau
ganz für sich in Anspruch nehmen. Er wurde katholisch erzogen, empfing
aber entscheidende Anregungen aus dem Protestantismus und bezeichnete
sich nach Denkart und Religionsübung selbst als Protestant. Doch alles
Konsessionelle liegt weit unter ihm. Das Wesentliche und für seine tzand-
lungen Bestimmende ist der tiese Glaube an die Vorsehung, an den
vernünstigen Sinn des Lebens überhaupt und seines eigenen Lebens. Von
hier aus versteht man, wenn er Wert legt auf ein „gewisses Vorgefühl,
das mich niemals trügte", versteht man auch seine Gleichmütigkeit gegen
Leben und Tod. Diese beruht ja nicht auf irgendeiner Anempfindlichkeit
oder Hemmungslosigkeit. Gneisenau wußte Wert und Schönheit des Lebens
sehr wohl zu schätzen. Seine Tapserkeit ist bewußt und ausgeübt mit
Rücksicht auf die Wirkung. Als in Kolberg eine Granate über die Köpfe
dahinsauste, derweilen er seine Besehle diktierte, und als die Osfiziere sich
bückten, stand er allein aufrecht und bemerkte kühl: Meine Herren, ich
bitte Sie, aus nichts zu achten als auf meine Worte — das war absichts -
volle Kaltblütigkeit. Als vor ihm ein Geschoß in den Wall schlug, wäre
ein Ausweichen oder wenigstens Stillstehen durchaus kein Zeichen von Feig-
herzigkeit gewesen. Wenn er aber in unveränderter Haltung über die Stelle
hinweg weiterging, während wenige Schritte hinter ihm das Geschoß explo-
dierte, so wußte er, daß er dadurch die Soldaten entflammte und zur
Nacheiserung anspornte. Bei dieser Art von Tapferkeit, zu der ein
hohes Maß geistiger Freiheit und Beherrschung gehört, ist es keine Phrase,
wenn er in seinen Briefen von dem „Schutz Gottes« spricht. Ahnlich srei
ist seine Stellung zu den Gütern des Lebens. Er ist Landwirt aus star-
kem sachlichen Interesse. Aber er klebt nicht an der Scholle, der Boden dient
ihm lediglich als Mittel. Als es ihm praktisch erschien, riet er dazu,
das Gut zu veräußern und ein Haus in Berlin zu kausen. Er bleibt
stets der frei gestaltende Herr, der sich durch Dinge und Ereignisse nicht
unterjochen läßt. So war er niemals durch Anglück oder Niederlagen
zu zermürben. Verlorenes Land kann man wiedergewinnen, einen zer-
schmetterten Staat kann man neu errichten, verlorene Schlachten gehen
vorüber, man kann aus der neuen Lage stets nach freiem Plan neue
Ziele setzen, wenn man nur die Ereignisse mit klarem Verstand erlebt
und sich nicht die besonnene geistige Aberlegenheit rauben läßt.

Innerlich frei war er sogar von den selbstgewählten Autoritäten. So
sehr er in Mannentreue dem preußischen König ergeben war, im tiessten
Grunde hat er auch ihn wie den preußischen Staat nur als Mittel im
Gang der Weltgeschichte gewertet. Als er mit seinem Instinkt für ent-
scheidende Augenblicke die Weltlage nach Moskau und Tauroggen be-
grisf, kehrte er alsbald von England nach Deutschland zurück, um un-
bekümmert um das Zögern seines Königs auf eigene Faust den Volks-
ausstand zu organisieren. Uns mag der Entschluß unsinnig erscheinen.
Vergessen wir aber nicht, daß außer Napoleon niemand so wie Gneisenau
die Massenpsyche einschätzen und in bewußter Rechnung verwenden konnte,
daß er Kräfte erkannte, die andere nicht sahen, und daß er sich mit der
größten geistigen Beweglichkeit dem Augenblick anzupassen wußte. Für
jeden andern, aber nicht für ihn war der Plan abenteuerlich. Doch ihn
trieb nicht der Lhrgeiz zu dieser Rolle, sondern nur eine schwer emp-
sundene Verpslichtung. Darum, als er die Entscheidung des Königs er-

t22
 
Annotationen