Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI issue:
Heft 3 (1. Novemberheft 1913)
DOI article:
Vom Heute fürs Morgen
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0298

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
dichter und Musiker rnuß tiefdrin-
gende, weitsichtige, am Nahen grü-
belnde Augen und scharfhörende,
klangspürende Ohren haben, wenn
er wirken soll. Dann kann er mit
Farben Musik machen und eure
Seele mit Farbklängen ergreifen,
ohne seiner Kunst Gewalt anzutun.

Wir brauchen kein Italien dazu.
Die starke nene Zeit sättigt die
Schwärmer aus dem Heimatboden.
Du sollst den Himmel auf deiner
Erde suchen.

Das heißt: du sollst bei dir die
Freude entdecken; du sollst vom LLin«
fachen ausgehen, das Einfache, All-
tägliche bereichern mit der Kraft
deiner Seele. Sieh dir das Kleinste
genau an, lerne es lieben. Geh
von ihm aus, lerne es verstehen als
Grundstock zu jedem Großen. Geh
von ihm aus, und du wirst staunen,
wie einfach diese Welt ist und wie
einfach ihre Gesetze für dich und
deine Nachbarn sind — wie reich
die Möglichkeit zur Freude ist.

Wenn dir ein stiller Weiher,
leicht umsäumt von nachdenklichem
Gebüsch, genügen kann, um Höhen-
luft zu atmen, um gut zu werden
dadurch, daß deine Seele sich reinigt
im vertieften Schauen, dann er-
kennst du die großen, einsach mensch-
lichen Aufgaben deiner Künstler.

Einen alten Zaun malt dir der
Maler, der sich in leicht gekräusel-
tem Wasser spiegelt. Weiter hinten
läßt eine junge Weide ihr Gefieder
von leisem Wind schaukeln. Er
braucht nicht mehr.

Wenn ich am Strande ruhend
dies Bild in meiner Seele fasse,
was soll mir da die Bauernfrau,
der Erntewagen, den unsre Väter
als Zugabe verlangten? Ich brauche
sie an dieser Stelle nicht, nein: ihre
Geräusche stören mich am Wasser
und auf dem Bild. Ihr mensch-
liches Andersempfinden stört mir
mein Weiterschaffen im Geist. Denn
dieser Zaun, dieses Wasser,

diese Weide sind Nachbarsleute
und haben ihr Leben, ihre Ver-
gangenheit, ihre Zukunft, die mei-
nem Herzen nahestehen, die ich ge-
stalte, die ich liebe.

Der Maler malt einen Hof, einen
verfallenen, schmutzigen Vorstadthof.
Kein Mensch zu sehen. Ist auch
nicht nötig, denn alles, jeder graue
Fleck, jede trübe Farbe hat Er-
zählergabe, wenn nur der Maler
eine tiefe, fühlende Menschenseele
hat. Lr malt euch ihr unsichtbares
Unglück und ihr empfindet es.
Ieder abgetretene Stein erzählt euch
eine betrübliche Geschichte. Warum
soll er mit einer allein eure Phan-
tasie festlegen? Immer zieht der
hineingemalte Mensch zu nahe an
sich heran, er begrenzt, er beengt
euch.

Malt dir der Malerdichter so
mitsühlend den traurig verkomme-
nen Hof, dann entzündet seine Seele
Barmherzigkeit in dir, Mitgefühl,
Liebe. Du wirst einen ähnlichen
finden und nun erst sehen, wie diese
verkommenen Mauern klagen. Du
wirst die Steine reden oder seufzen
hören.

Am stillen Weiher wirst du sitzen
und die Naturseele atmen hören.
Vielleicht zum ersten Male in
deinem gehetzten Leben. Glaub nur,
du stehest auf als ein Besserer, denn
du wirst erkannt haben die Gleich-
gültigkeit deiner Vergnügen und die
Nichtigkeit deiner Furcht.

Darum solltet ihr nicht leblose
Kunst liebevoll in euer Haus neh-
men und ausdringliche Scheinkunst
sich widerwärtig breit machen lassen.
Ein jeder Ernste sollte auch wissen,
daß echte Kunst nicht zur spieleri-
schen Nnterhaltung da ist, sondern
Mitarbeit verlangt. Will er die
nicht leisten, dann wird vieles ge-
schädigt sein, das auf seine Hilfe an-
gewiesen ist. Und ihm selber wird
das Beste entgehen. Paul Thiem
 
Annotationen