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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1913)
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Schumann, Wolfgang: Neue Klänge im Drama
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0593

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Heftes. Schon ihre Äberschriften weisen auf ein Gerneinsarnes, das Lnßerlich
scheint, aber innerlich bezeichnend ist: die Fabel ist meist alt, gewöhnlich aus
frühesten Sagenkreisen oder Mythologien entnommen. „Ikarus und
Daedalus", „Althäa und ihr Kind", „Die ersten Menschen", „Atalanta",
„Raub der Europa", „l' annoneo knits n Nnris". Dies weist darauf hin,
daß die „Motive«, welche im Bereich des Primitiven wirksam werden
können, nicht allzu zahlreich sind; ist es wahr, was etwa Otto Rank
in seinem großen Werk „Das Inzestmotiv in Sage und Dichtung" nahe-
legt: daß die Poesie nahezu aller Völker und Zeiten immer wieder
ähnliche menschliche Anlässe aufweise, ist es wahr, daß diese aus geschlecht-
lichen Empfindungen und Lntwicklungen stammen, so ist ganz gewiß, daß
der primitive Mensch überhaupt nur wenig über eben diese Motive hinaus
sich entwickeln kann. Denn weder die Bewußtheit des Dichtens, welche
Spätere von den Ilrmotiven abhielt, noch die Kulturumgebung, welche
ihnen neue Motive schenkte, war ihnen gegeben. So begegnen wir denn
nicht ohne tieferen Grund in diesen Werken einer heimlichen Feindschaft
zwischen Vater und Sohn, einem blinden Begehren des Sohnes nach der
Mutter, der Rächung der Mutter am Vater durch den Sohn, dem Ge-
schwisterhaß.

Von hier aus dürsen wir uns nun noch etwas weiter vorwagen. Der
Gemeinsamkeit der Motive entsprechen gewisse Gemeinsamkeiten der dich-
terischen Arbeit. Ein ungewohnt hohes Maß von gewollt unklaren Sätzen,
symbolischen Ausdrücken und Handlungen, ein häusiges Halbausdrücken,
absichtliches Vorbeireden kennzeichnet vielfach den Stil, dessen Wortreich-
tum notwendigerweise in einem ungünstigen Verhältnis zu seinem geistigen
Gehalt steht. Selten kann und darf das innerste Begehren der Ge-
stalten nackt hervortreten, selten oder nie sich befriedigen, und so ent-
steht jener Brodem der verdrängten Triebe, der Gestaltenspuk, Phantastik
und allzu häufig auch Hader mit dem Göttlichen erzeugt. Die Höhe-
punkte dieser Poesie liegen selten da, wo mehrere Energien aufeinander-
platzen, meist dort, wo lange eingedämmtes Fühlen lavahaft ausbricht.
Nicht die kluge Szenenführung mit dem Zweck, mehrere Kräfte sich messen
zu lassen, herrscht vor, sondern die willkürlichere, instinkthaftere Poetik
der Triebdarstellung. Die Werke dieser Richtung sind aber natürlich
nicht nur einfache tendenzlose dichterische Besinnungen aus die Schön-
heiten des Einst. Sie tragen eben dieses Einst als soziologisch-historische
Absicht in sich, sie wollen Kräste neu wirken machen, die nralt sind.
„Wesenheit, Kräfte und Leidenschasten, an deren Verlust ein Volk zu-
grunde geht« (Em. Strauß), wollen sie erhalten, gestaltend der Zeit
vorhalten. Darin liegt ihr prophetischer Sinn, ihre prophetische Absicht.
Die „Moderne", das Getriebe von Geldsucht, Ichsucht, Verständigkeitsucht,
Augenblicksucht, welche alle die Einzelnen, die kleinen und die größten Ge-
meinschaften böherrschen, hat eine unbestimmte Angst erzeugt. Hunderte
dieses Geschlechtes von heute fragen sich: kann, wird dies alles so weiter-
gehen? fragen sich, ob es nicht besser ist, zur Weisheit und Reinheit, zur
Schönheit und Einfachheit des Einst sich zu bekennen. Deutschland hat,
wie ich meine, keinen Dichter dieses Bekenntnisses hervorgebracht, nur
eine Reihe von Bekennern. Frankreichs Bekenner dieser Weisheit ist
zugleich ein Dichter. Nun wird zu sragen sein, ob die Gegenwart aus
der Vergangenheit oder aus eigener Kraft zu heilen ist. Es ist an
sich gewiß belanglos, wenn ein Einzelner wieder die Meinung ausspricht,
 
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