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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0624

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gar nichts, was so angenehm aus-
muntert, als mit guten Waffen zu
fechten.

Aber alle Gottesfrieden waren
ja kurz. Ein kurzer Gottesfrieden
in geistigen Kämpfen ist eine gute
Sache. Es ist überraschend fruchtbar,
daß man sich einmal zwingt, ganz
mit Bewußtsein zwingt, die Men-
schenhandlungen einzig und allein
auf ihr Gutes hin anzusehn. Man
ruht sich dabei vom Argerlichen aus,
das ist eins. Das zweite: man übt
dabei sein Auge für die andre Seite.
Drittens: man bekommt fürs Wei-
tere vielleicht etwas Humor, wo sonst
der Zorn vorgeherrscht hätte — man
wird ein bißchen überlegener, auch
gegen sich selbst. Viertens aber, und
das ist die Hauptsache: was trotz
all solchen Bemühens nichts von
seiner Häßlichkeit verliert, das wird
der weiteren Bekämpfung dann wohl
besonders würdig sein. Also:
man lernt was, und zwar ganz
Wesentliches. Das ist die Schluß-
stimmung: sammle deine Kraft, die
du sonst vielleicht auf Kleinkram ver-
zetteln würdest, auf die Punkte, wo
sich's lohnt.

Wer von uns steht nicht in ir-
gendwelchen Kämpfen? „Mensch sein,
heißt ein Kämpfer sein", das ist ja
keine Phrase. Aber uns scheint: Es
ist eine Aufgabe der Sittlichkeit,
dann und wann „eirenische Perio-
den" einzuschalten, zur Gerechtigkeit
gegen andre. Ebenso eine der gei-
stigen Hygiene, des eigenen Kräf-
tighaltens wegen. Ilnd eine Aufgabe
des Ordnunghaltens in Herz
und Kopf, damit nur das Wichtige
als wichtig behandelt werde.

Der alte Gottesfrieden war ja
auch nicht nur ein frommer Gedanke,
er war zugleich ein sehr praktischer
Versuch von Männern, die im ir-
dischen 'Leben sittlich wirken woll-
ten. A

Nietzsche und das Heute

öglich, daß es ein drolliges
Schauspiel war, wie gerade
unter den Behäbigen der Behäbigste
Nietzsche abzutun glaubte — aber
von Otto Ernsts Vorträgen gegen
Nietzsche ist in den Tagesblättern so
viel gesprochen worden, daß wir das
um ihrer selbst willen nicht auch
noch zu tun brauchten. Doch die
Begleiterscheinungen regen zu einem
Worte an. Man hat nämlich jetzt
bis weit in die konservative Presse
hinein das Lrnstsche Auftreten wenn
nicht dem Worte, so doch der Stim-
mung nach in einer Weise besprochen,
die durch das Stichwort „Appelschnut
contra Zarathustra" angedeutet wird.
Und das scheint des Verzeichnens
wert — dieser Umschwung, ich möchte
sagen: im Organ, im Sinne
für Nietzsche.

Denn er beweist, daß man sich
heut bis zu den konservativsten Den-
kern hin darüber klar ist: daß eine
Widerlegung Nietzschescher Be -
hauptungen sehr wenig oder
nichts bedeuten würde, auch wenn
man nicht so leicht Worte des frühe-
ren Nietzsche gegen Worte des späte-
ren ausspielen könnte. Was in
Nietzsche um Ausdruck rang und in
wundervollen Gestaltungen der
Phantasie und der Sprache auch
Ausdruck fand, deren Widersprüche
das Menschenseelenbild nur runden,
das müßte man widerlegen, wenn
man ihn töten wollte. Das zu wider-
legen geht aber nicht an, weil es
keine Gedanken, sondern eine dau-
ernde Eigenschaft des Men-
schen betrifft, und nicht nur des
Menschen Nietzsche, sondern der
Menschheit und des Menschentums.
Der Trotz des Prometheus, das
Aufbäumen des Faust, das Äber-
und Herrenmenschen-Ich — das
echte nämlich, das als Vorbedin-
gung die ungeheure Verpflich-
tung der Selbstveredelung, des

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