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Kunstwart und Kulturwart — 27,1.1913

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1913)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14287#0626

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rus empfängt, die zischelnde Rede
Famas — in all diesen Stücken steckt
poetisches Gut. Allerdings, Stärkere
als Lulenberg hätten es vielleicht
nicht so gleichsam lose, halbverknüpft
gegeben, hätten das lyrisch-stim-
munghaste Beiwerk, den Einfall im
wohlgesügten Werk verwandt, nicht
unter dem Decktitel Oratorium zur
Scheinselbständigkeit erhoben.

Ein Legendenspiel (Legendenspiel!)
nennt Wilh. Schmidtbonn sei-
nen „Verlorenen Sohn". Ich bin
versucht, diesem Buch dichterische
Eigenschaften überhaupt abzuspre-
chen, und weiß doch recht gut, daß
die Kritik heute solche Worte gar
nicht mehr wagen dars, ohne sich heil-
los zu blamieren, nachdem Schmidt-
bonn mindestens zwei erfolgreiche
Theaterstücke geschrieben hat. Das
ziemlich osfen eingestandne Motiv
des Sohnes zur Flucht vom Vater-
hause — und über ihre Beweg-
gründe, wie überhaupt über ihr Ich
gibt die Hauptgestalt des Werkes un-
ausgesetzt offenherzig Auskunst — ist
eine schlichte Unzufriedenheit und
Langeweile, daneben der Drang in
die Ferne, zur Lust und zu den Ge-
nüssen der Großstadt.

„Mit aufgehobnen Augen
zu Palästen und Tempeln
ausschauen will ich.

Wenn ihr auf eure Betten euch legt,
kaum daß der Mond gelb ist,
fängt dort der Tanz an, das Lied.
Die unendlichen Straßen
klingen vom Rausch
all der Freien, Feiernden."

So unmißverständliche Pubertät-
phantasien beherrschen den ersten
Auszug. Zugleich geben diese neun
Zeilen eine Probe von der Schmidt-
bonnschen Rhythmik und Sprache.
Ich spreche völlig ausrichtig, wenn
ich sage, daß ich gern wüßte, was
man darin eigentlich für Vor-
züge findet, — man weiß ja
von den vielgelobten „Rhapsodien"
Schmidtbonns her, denen sie ähneln,

daß Manche solche Vorzüge darin
finden. Ich meinerseits glaube, daß
Sprachbegabte in solchen ausdruck-
armen, ungeschauten, ungefühlten
Wackelrhythmen aus dem Stegreif
sprechen können. Und daß Legen-
denspiele wie dieses auf der Me-
thode der kunstlosen Verbreiterung
eines alten Stosfes, nicht auf der
Methode der Verdichtung stehen.
Bliebe denn das oft genannte „aüs-
gelassene Lebensgesühl", die Lebens-
bejahung und Lebensfrische, die
„Freiheit" als letztes Element der
Wirkung Schmidtbonns. And wie-
derum: ist es denn wirklich so viel
wert, wenn einer sich des Denkens
srischfröhlich begibt, seinen Trieben
unbekümmert nachgibt, sie verherrlicht
und belauscht, ein paar Gesühle auf-
fängt und hinausrust? Oder beginnt
große Kunst nicht erst dort, wo wir
die überlegene Persönlichkeit,
den gestaltenden Geist, die g e-
lenkte Kraft verspüren, erst mit
Werken, die wahrlich so wenig wie
Hebbels „Genoveva", Shakesperes
„Romeo", Sophokles' „Antigone",
Kleists „Penthesilea" des Gesühls
und der Anmittelbarkeit entbehren,
aber die Armächte des Daseins in
ihrer Organisation, nicht vereinzelt
und geschwächt veranschaulichen? ...

Kürzer können wir uns sassen über
Otto Borngräbers erotisches
Mysterium (erotisches Mysterium!)
„Die ersten Menschen" und seine
Tragödie der Reinheit (Tragödie der
Reinheit!) „Althäa und ihr Kind".
Ienes ist wegen der offnen Verge-
waltigungversuche des Sohnes an
der Mutter von der Zensur bean-
standet worden, und wie üblich haben
daraus mehrere Sachverständige die
rein künstlerische Art und Absicht
des Werkes bezeugt. An diese Ab-
sicht glaube ich auch, an die Kraft
sie zu verwirklichen nicht. Wenn in
den „Ersten Menschen" der trieb-
gesolterte Kajin (Kain) aus dem Ilr-
wald schreit „Finden will ich das

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