Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunstwart und Kulturwart — 35,1.1921-1922

DOI issue:
Heft 2 (Novemberheft 1921)
DOI article:
Schumann, Wolfgang: Neuere skandinavische Erzählungen, [3]
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14434#0122

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Ladung mit Empfindungen, eine dringlichere Konzentration des Geistigen
und eine tiefere Verbindung zwischen dem Alltag und den großen Strö-
mungen der Geschichte empfinden wir als Hebel der realistischen Dramatik;
aber dies gibt das gemächliche dänische Leben, an das der Realist Andersen
sich mit seiner ganzen Treue hält, nicht her. And nicht anders steht es sogar
mit einem so wohlgerundeten und ausgewogenen Roman wie dem „Familie
Frank" betitelten, mit dem Andersen-Nexö die Reihe seiner halb proleta-
rischen, halb kleinbürgerlichen Elendsbilder kürzlich ergänzte. Man spürt,
daß er eine geradezu vollendete Kenntrris dieser Küstenstadtwelt uud ihrer
typischen Gestalten hat, daß seine sachlich-ruhige Erzählertechnik den Gehalt
und das äußere Bild dieser Welt vollkommen ausschöpft,- er ist der reinste
Spiegel — und das ist nicht, wie unsere Literaten glauben, eineKleinigkeit
und Leichtigkeit. Noch mehr: das reine, innige, zarte und starke Gefühl des
Erzählers für Klima, Äberlieferung, Lebensart, vor allem aber für die
menschlichen „Tiefen" seiner Gestalten, das ist gewinnend, bezwingend, er-
greifend. And dochl wie matt entwickelt sich dies alles, wie langsam ge-
langen wir von Kleinereignis zu Kleinereignis, wie stark drängt sich uns
das Gefühl auf: ließe sich das alles nicht knapper, gedrängter, vergeistigter,
entschiedener geben? And mit solchem Gefühl sind wir im Recht, wenn
anders Dichtung Angelegenheit hoher Geistigkeit und tiefster Leidenschaft
ist. Realismus hat zwei ästhetische Möglichkeiten: er ist eine Technik, die
in ihrer gewaltigsten Ausprägung den überwältigenden Eindruck hervor-
bringt, daß wir dem schlechthin Wirklichen, der nackten Wahrheit, dem
unserm trüben Auge stets Verborgenen gegenüberstehen, daß der Schleier
plötzlich gelüftet wird vom Ewig-Einen; uud auch in mittlerer Prägung ist
diese Technik angepaßt der einen Aufgabe: einen gesellschaftlichen Kosmos,
ein umfassendes Zeitbild zu bieten, das die weitesten Sichten, die erstaun-
lichsten Entwicklungen, Zusammenhänge und -klänge wiedergibt und uns
ahnend in sie hineinstellt und -bannt. Dies hat Andersen-Nexö vermocht
mit dem Roman „Pelle der Eroberer". Es scheint, daß er Ahnliches an-
strebte mit dem Roman einer Proletarierin „Stine Menschenkind". Von
diesem haben wir hier zweimal berichtet. Ietzt liegen vor der dritte Teil:
„Der Sündenfall" und der vierte: „Das Fegefeuer". Es handelt sich um
die Dienstzeit Stines auf dem Lande, wo sie schuldlos, ja ahnunglos
Mutter wird, und um ihre Dienstzeit in Kopenhagen, wo sie, das Landkind,
in einem Dutzend „Stellnngen" das soziale Gesicht der modernen Großstadt
kennen lernt und so viel Lebensklugheit, Härte und tieferes Wissen erwirbt,
wie sich ihrem lieblich-schlichten Wesen einen mag. Alles was wir vom
Verfasser der „Familie Frank" rühmen durften, bewährt der des „Men-
schenkindes" ebenso, vielleicht noch gewinnender und liebenswürdiger. Welche
Menschenkenntnis, welche Menschenliebe! welche Reinheit der Darstellung,
welche Fülle des Herzens! Betrachtet als Zweck-Arbeit, als Aufklärung für
unsozial Empfindende, als dringende Mahnung an die Hartherzigen, ist
diese einläßliche Schilderung des Seelenlebens eines Dienstmädchens wert-
voll, als sanfte Erschließung menschlicher Herzen und freundliche Anterhal-
tung, als Zeugnis reinster Gesinnung tausendmal erfreulich. Aberwiederum:

wie langsam spielen sich die Ereignisse ab, wie unscharf ist die
Technik, wieviel Stunden brauchen wir, um das alles zu lesen,- künst-
lerisch bleibt „Stine Menschenkind" weit hinter den Möglichkeiten des
Realismus zurück, und als Zeitbild kommt diese Biographie eines guten
Mädchens überhaupt nicht in Betracht.

95
 
Annotationen