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Münchner kunsttechnische Blätter — 9.1912/​1913

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Nr. 2
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Schmidt, Fritz-Philipp: Ein Meisterwerk der Anatomie
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t2

Münchner kunsttechnische Biätter.

Nr. 3.

matisch sind die Zeichnungen, trotz seiner Angabe, sie
seien nach Natur und Präparat entstanden. Wie un-
vergleichlich lebendiger wirken seine Illustrationen zu
seinem köstlichen „Bingo und andere Tiergeschichten",
und gern wird der von diesem Buch Begeisterte es
glauben, dass das wissenschaftliche, übrigens englische
Werk dieses amerikanischen Künstlers menr „anregend"
als formal durchgebildet und einwandfrei richtig sei.
In diesem Punkte aber entsprechen Maximilian
Schäfers „Tierformen" höheren Anforderungen. Dies
treffliche Werk ist überhaupt durch sein Mensch und
Getier vergleichendes Nebeneinander lehrreich und
gleichfalls höchst anregend. Mehr summarischen An-
sprüchen, wie sie etwa die angewandte Kunst stellt,
mag es vielleicht genügen; ich habe mehr den Ein-
druck eines zwar interessanten, aber unvollständigen
nur „ergänzenden" Werkes.
Ein erschöpfendes, einwandfreies und massgeben-
des Werk ist keines von beiden, vielmehr leiden sie
noch beide in verschiedener Weise an zu seltener
Darstellung ganzer ungekürzter Tiere oder Menschen,
an zu geringer Plastik und einer gewissen Ungleich-
wertigkeit der Durchbildung.
Als ein solches durchaus massgebendes und er-
schöpfendes Werk kann ich das „Handbuch der
Anatomie der Tiere für Künstler" der drei Pro-
fessoren Ellenberger, Baum und Maler H. Dittrich
bezeichnen (Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, Theo-
dor Weicher, Leipzig*)).
Vor der näheren Begründung dieser Einschätzung
möchte ich daran erinnern, dass nicht jeder ohne
weiteres derartige Werke treffend zu beurteilen ver-
mag. Von den rein künstlerischen Qualitäten abge-
sehen, gehört dazu ebenso eine Beherrschung des
fraglichen Gebietes wie vor allem die Einnahme des
richtigen Standpunktes.
Was ersteres betrifft, muss man zu voller Würdi-
gung bedenken, wie in jeder Wissenschaft nur auf
Autorität hingenommene Annahmen sich von Katheder
zu Katheder fortschleppen können, bis sie, bisher mehr
an der Peripherie des Interesses gelegen, einmal von
jemandem ins Zentrum gerückt und einer gründlichen
Nachprüfung unterzogen werden. Ich möchte sogar
meine Koliegen fragen, ob ihnen früher z.B. die Lage der
menschlichen Kniescheibe während der verschiedenen
Schenkelstellungen von jedem Lehrpulte in wirklich
einwandfreier oder in übereinstimmender Weise über-
mittelt worden ist?! Als einer, der derartige Fehler
und Ungenauigkeiten einst auch in anatomischen
Werken als sehr hinderlich empfunden hat, freue ich
mich, die vorliegende „Drei-Verfasser-Anatomie" als
die höchste, ich möchte sagen, die denkbar höchste
Leistung an Richtigkeit bezeichnen zu können. Ob
jetzt, nach Berichtigung eines traditionellen Fehlers,
den die erste Auflage des Pferdes noch aufwies, die
Entdeckung auch nur einer Unrichtigkeit gelingen
würde, wäre mir wirklich interessant.
Beschäftigen wir uns zunächst mit den Zeichnun-
gen, sobestätigen siediegünstigeVoreingenommenheit,
die wir durch den ersten Blick gewonnen, auch bei gründ-
licher Betrachtung in vollem Masse. Der Kenner sieht,
dass einer solchen, bis indiekleinsteEinzelheitrichtigen,
in flüssiger Harmonie der Verhältnisse gegebenen
Durchführung sehr viele Studien, Beobachtungen und
Nachprüfungen (einschliesslich solcher durch Photo-
graphie und Röntgendurchleuchtung) in jahrelanger
Arbeit vorangegangen sein müssen; Studien nicht bloss
der Richtigkeit an sich, sondern auch hinsichtlich der
Ausgestaltung des Typischen.

*) Pferd 9,80 Mk., Rind 20 Mk., Löwe 20 Mk.,
Hirsch, Reh, Ziege 10 Mk., Hund 16 Mk., Textband
to Mk. geb. 12 Mk.

Wer vom Herstellen von Präparaten etwas ver-
steht und vor allem, wer sich vergegenwärtigt, wie
die Schwierigkeit ungestörter Beobachtung und be-
absichtigter Stellunggabe beim Tiere, die schon
beim menschlichen Modell oft verstimmenden Placke-
reien weit übertrifft (man denke auch an die Ansichten
von unten und oben), der begreift, welche Menge an
Energie und Zeit es schon vor Beginn der eigentlich
zeichnerischen Tätigkeit aufzuwenden galt.
Gerade mit Rücksicht auf diese Schwierigkeiten
muss ich auch die Lebendigkeit der Zeichnung
glänzend nennen. Keine Stelle zeugt von mühsamer
Entstehungsweise, alles steht in selbstverständlicher
Klarheit und plastischer Vollendung da. Und durch
diese Vollkommenheit bedeuten die Zeichnungen eine
Brücke zwischen angewandter Wissenschaft und Kunst.
Es ist in der Tat ein eigenartiger Kunstgenuss, den
man beispielsweise bei der mit vergnüglichem Auge
nachtastenden Betrachtung des Skeletts hat. Noch nie
erfreute mich bei anderen solchen Werken dermassen
die kraftvolle Grazie der Knochenformen, noch nie
wurde ich mir des Rhythmus der Verhältnisse von
lang und kurz, dick und dünn usw., der von Aufgabe
und Lösung sprechenden Konstruktion mit ihren Hebeln
ihren Kraftansätzen und -auslösungen in dem Grade
bewusst — oder des reinen Rhytmus der Form, z. B.
am Skelett von oben. Das liegt, meine ich, nicht zum
wenigsten in der vorzüglichen Stofflichkeit der Be-
handlung begründet, welche eine starke Seite in
Dittrichs ausgezeichnetem graphischen Können ist:
Knochen wirken ganz knochig; dickes und mageres
Fleisch, Sehnen und Bänder, Fell und Fascie, alles
hat die ihm charakteristische Darstellung gefunden.
Diese wesentlichen Vorzüge zeigen — um noch
die Wichtigkeit des rechten Standpunktes zu berühren
— wie töricht bei einem solchen Werk die Forderung
geistreich-skizzenhafter Darstellungsart wäre. Wenn
der Wert rein künstlerischer Werke im Betonen, oft
im Betonen durch Weglassen auch des an sich Inter-
essanten besteht, so der Wert lehrhaft künstlerischer
Werke in der qualitativen wie quantitativen Vollkom-
menheit und Klarheit. Bei Werken, die mitten zwischen
Kunst u. Wissenschaft stehen, sich geistreich zu geben,
schiene mir an Widersinn etwa vergleichbar der Viel-
farbigkeit bei naturalistischer Plastik. Beim Verfehlen
des rechten Standpunktes, den ein solch lehrhaftes
Werk nach Zweck und Absicht ebenso erheischt, wie
ein Kunstwerk seinem inneren Wollen nach, könnte
man vielleicht das Fehlen einer besonderen Auf-
machung für einen Mangel erklären, ich aber halte es
vielmehr für einen grossen Vorzug, für ein edles Zu-
rücktreten der Person hinter der Sache. Nur so
konnte diese bewundernswerte, ja „fürchterliche" Ob-
jektivität entstehen, eine Objektivität, die, gleich der
Natur selbst, vom Künstler erst gestaltet zu werden
verlangt.
(Schluss folgt.)
Literatur.
Prof. Dr. P. Hoffmann, Ueber Farbenblindheit, deren
Bedeutung und Untersuchung. Verlag von Dr. Fr.
Schoenfeld & Co., Malerfarben- und Maltuchfabrik,
Düsseldorf. Preis 2 Mk.
H. Stäuber, Zur Reform des Zeichenunterrichts. Ver-
lag von Art. Institut Orell Füssli, Zürich. Preis
1,20 Mk.
Wilh. Balmer, Pinselzeichnen. Lehrmittel für den mo-
dernen Zeichenunterricht. 60 Blätter in farbiger
Lithographie. Verlag von Art. Institut Orell Füssli,
Zürich :91t. Preis 2,40 Mk.

Verlag der Werkstatt der Kunst (E. A. Seemann, Leipzig).
 
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