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Münchner kunsttechnische Blätter — 9.1912/​1913

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Nr. 12
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Berger, Ernst: Grecos Astigmatismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.36589#0050

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46

Münchner kunsttechnische Blätter.

Nr. !2.

und in seinem kritischen Gesamturteil sagt er:
„Man darf die Geschicklichkeit dieses Meisters
nicht nach einigen von ihm in Madrid befind-
lichen Werken abmessen, zu welchen das Altar-
blatt in der Kirche Donna Maria de Aragon
nebst anderen gehört, da man weiss, dass er
auf Ausschweifung verfiel, nachdem er in
seiner besten Zeit, die er in dieser Stadt zu-
brachte, sehr bewunderungswürdige und schätz-
bare Gemälde, Schnitzwerke und Werke der
Architektur verfertigt hatte."
Der nämliche Puente gibt in einer die Lebens-
beschreibung Grecos betreffenden Notiz ein wohl
unverbürgtes Gerücht wieder, demzufolge Greco,
nur um die Meinung zu widerlegen, dass er
seinem Meister Tiziano nachahmen wolle, „aus-
artete und auf jene ausschweifende Manier
verfallen sei", die seine Werke zeigen.
Heute wissen wir, und der bekannte Greco-
forscher C. Justi hat zuerst diese Vermutung
ausgesprochen, dass „die allmähliche Wandlung
des von den grossen Venezianer Meistern über-
nommenen Stils in einen unproportionierten
Manierismus von haltloser Linie und salopper
Formengebung bei ihm durch eine Sehstörung
bedingt gewesen ist". Es handelt sich, wie Aug.
Goldschmidt richtig ausführt, in der Tat um einen
spezifischen Fall von Astigmatismus bei Greco,
der in seinen späteren Lebensjahren sich immer
deutlicher fühlbar machte.
Dr. Goldschmidt sagt in dem zitierten Auf-
satz: „Wir verstehen unter Astigmatismus jene
optische Einstellung des Auges, bei der parallel
auf das Auge auffallende Strahlen nirgends zu
einem gemeinschaftlichen Brennpunkt vereinigt
werden. (Man kann demnach eher von einer
Brennstrecke als von einem Brennpunkt sprechen.)
Dieser Fehler tritt ein, wenn die Wölbung der
brechenden Medien des Auges unregelmässig ist.
Das Sehen des Astigmatikers ist nicht bloss un-
deutlich, wie das des Kurzsichtigen oder Ueber-
sichtigen, sondern bietet wegen der in die Länge
gezogenen Form des Zerstreuungsbildes be-
sondere Eigentümlichkeiten dar. Es wird dem-
nach bei solchen Kranken z. B. ein Kreis zur
Ellipse verlängert (oder das Quadrat wird zum
Oblong).
„Der Astigmatismus kann wohl durch Erkran-
kung der Hornhaut und Linse erworben sein, ist
aber in den meisten Fällen mit einem anormalen
Bau des Auges und des Schädels überhaupt (siehe
Grecos angebliches Selbstbildnis bei Beruete*])
angeboren."
„Ohne die medizinische Seite der Frage hier
erschöpfend behandeln zu wollen, sei noch be-
merkt, dass es sich bei dem griechisch-spanischen

*) Das eben infolge des Astigmatismus die schon
verlängerten Formen zeigt! E. B.

Meister um einen sog. „hyperopischen (weitsich-
tigen) Astigmatismus nach der Regel" handelt,
wo die vertikale Achse des Auges stärker, die
horizontale schwächer bricht. Um sich von dem
Gesagten selber zu überzeugen, raten wir, ein
für den Fall bezeichnendes Werk Grecos, z. B. die
„Himmelfahrt Christi" im Prado, mit korrigieren-
den Augengläsern zu betrachten. Der Effekt ist
eine Raum- und Bildwirkung, bei der das normale
Auge durch keinen von Proportionsfehlern ent-
stellten „Manierismus" gestört wird."
Was Prof. Liebreich schon vor 40 Jahren bei
Turner vermutete, findet seine Bestätigung durch
die „Sehstörungen" des Theodocopuli, und durch
geeignete geschliffene Gläser können wir den
Astigmatismus Grecos korrigieren. Dazu am ge-
eignetsten ist ein zylindrisch (Konvex, Brennweite
5,5) geschliffenes Glas, das bei jedem Optiker
zu haben ist.
Betrachten wir z. B. irgendeine Abbildung
durch ein solches Glas, mit der Achse hori-
zontal, dann werden alle Linien oder Formen
in die Länge gezogen, also ebenso verlängert,
wie Greco sein Vorbild gesehen haben mag. Da
sich beim Malen nun das in die Länge verzerrte
Vorbild, in der Meinung, es richtig wiederzugeben,
abermals verzerrt, so verdoppelte er die Wir-
kung des Sehfehlers, und er malte dann die in
die Länge gezogenen Figuren, seine schmalen
Gesichter und Hände.
Sieht man aber eine Abbildung nach Grecos
Spätwerken durch das erwähnte Glas (Achse
vertikal), dann erscheinen alle Formen ver-
breitert, die unnatürlich schlanken Figuren be-
kommen die ihnen gebührende Breite, und so
korrigieren sich die Fehler in bester Weise!
Ungemein auffallend ist dies der Fall bei
Architekturen, z. B. auf dem Gemälde „Immaculata
Conception" (siehe Abbildung in dem Buche über
El Greco von Aug. L. Mayer, Delphin-Verlag 1911,
das, mit 50 Abbildungen versehen, zu obigen
Versuchen sehr gut geeignet ist), wo links unten
eine mit Säulen geschmückte Kuppelkirche mit
offenbar unmöglichen Proportionen gemalt ist.
Durch das Glas gesehen, wird die Architektur
mit einem Male richtig. Auch die Ansicht von
Toledo (ebenda S. 75) zeigt die Paläste, Türme
usw. viel zu hoch und schmal; das Glas korrigiert
diese Fehler und lässt das Städtebild richtig er-
scheinen.
Man besehe sich in dieser Art die Abbildung
S. 19: „Entkleidung Christi" (Pinakothek), „Traum
Philipps II." (S. 21), die Bilder im Escorial (S. 23)
und Prado (S. 37) u. a., und man wird den Ein-
druck der Naturwahrheit des Dargestellten haben,
während umgekehrt, wenn man Abbildungen
früherer Werke Grecos in Toledo (S. 14, 15) oder
das „Begräbnis des Grafen Orgaz" (S. 26, mit
Details S. 27, 28, 29) durch die Konrrektionslinse,
 
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