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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 158/159 (Mai 1913)
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers, [2]: Ein Roman
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Meyer, Alfred Richard: Dortmund
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Friedlaender, Salomo: Die Mitte zwischen Extremen: Zur Verhütung eines Mißverständnisses
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0025

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gen empor und in der Talsohle standen. Sie waren
die Unerschütterlichen, sie standen, und lächelten,
als erwarteten sie nicht das Ende, sondern eine
neue Fruchtbarkeit, neue Gnade aus dem Schoß
der Erde. Er wußte wie breit und plump die Kro-
nen dieser Bäume waren; aber dennoch erhoben
sie sich vor ihm zu einer schlanken Schönheit, zu
der Linienschönheit dunkler Zypressen. Diese
Erinnerung an die Symbole der Trauer machte die
Verwandlung der idyllischen Landschaft in eine
heroische vollkommen. Er sah die höchste Span-
nung der Angst und erhielt durch die Zypressen
die Bestätigung der unabweisbaren Vernichtung.
Er erkannte in dieser Landschaft, an deren heitern
Ruhe er sich bis dahin erfreut hatte, plötzlich eine
tragische, die sich der seines Werkes als Gegen-
stück an die Seite stellen konnte. Und dies gab
ihm die Gewißheit, so innig mit seinem Werk ver-
wachsen zu sein, dieses Werk selbst zu sein, daß
ihm selbst das Heitere gehorchen und würdig wer-
den mußte, daß sich ihm von nun an jede Land-
schaft in eine tragische wandeln würde. Nun gab
es für ihn nur noch die großen, schweren Gebär-
den, die Fülle eines kernhaften Reichtums. So war
er zugleich Beherrscher und Sklave seines Wer-
kes. Und so strebte er einer neuen Kunst entgegen.

In den Anblick der verwandelten Landschaft
versunken, fühlte er, daß dieser Tag für ihn ein
Gipfel würde, von dem er Ausschau hielte über
den zurückgelegten Weg, um mit dem Vergange-
nen abzurechnen. Die Summe des Erreichten
mußte an diesem Tage aufgestellt, das Erworbene
und Gesammelte verzeichnet und abgeschlossen
werden, damit er frei und ohne Bürde weiter-
schreiten konnte. Und über sich selbst mußte er
zu Gericht sitzen, prüfen und erwägen, auf daß
alles, was der Kunst, die er anstrebte, schädlich
war, vernichtet und ausgerottet wurde. Jede
Liebe, die er in den Jahren des Reifens gehegt,
jeden Haß, den er genährt, jeden Stolz, der er sich
hingegeben hatte,mußte er an sich vorüberführen,
um sie zu verurteilen oder um sie anzuerkennen.
Er wußte, welch eine Strenge zu seiner ernsten
Künstlerschaft gehörte, wußte, wie ehrlich gegen
sich selbst er sein mußte, wenn die Kunst, die er
ahnte und wollte, nicht eine Unehrlichkeit werden
sollte. Und wußte, daß es vor allem sein Werk
war, dem er sich mit straffer Strenge gdgenüber-
stellen mußte; denn in seinem Werk wollte er zu
den Menschen seiner Zeit sprechen, um sie aufzu-
rütteln und ihnen die Ahnung einer neuen Größe
in die Seelen zu gießen. Eine verästelte Arbeit er-
wartete ihn an diesem Tag des Ausblicks. Eine Ar-
beit, über der die Schwüle einer ängstlichen Er-
wartung lag, in der die verlangende Freude einer
süßen Hoffnung zitterte.

Indem er sich der Landschaft hingab und sie in
der Wechselwirkung umschuf, versetzte er sich
mitten in sein Werk, dessen Nachwehen ihm den
langen Brief an den Freund eingegeben hatten. Es
war ihm eine tiefe Freude, die dem Schweigen auf
dem Grund eines dunkeln Waldsees glich. Sie war
nicht stürmisch und drängend, sie zwang ihn nicht,
die Arme auszubreiten, um die ganze Welt an seine
Brust zu ziehen, sie saß philosophisch erhaben in
seinem Herzen und sandte von da die unsichtba-
ren Strahlen ihrer Macht aus, daß sie sein ganzes
Wesen durchleuchteten und zu einem schönen ed-
len Rhythmus zwangen. Er fühlte sich außerhalb
jeder Zeit, unnahbar wie das Schicksal, und hatte
den festen Glauben, dier Kunst »seiner Zeit das
Schicksal zu werden. Er wiar hochmütig in
seiner erhabenen Freude, denn er hatte das
stolze Bewußtsein, ein Großes vollendet zu haben.
Je tiefer er rückdenkend in sein Werk ein-
drang, umso mehr Ehrfurcht empfand er vor einer

Kraft, die solches schuf. Mit Erstaunen überblickte
er den weiten Weg, den er gegangen war, starrte
mit leisem Grauen in die Tiefen, die sich ihm offen-
bart, und wurde geblendet von den Höhen, in die
er mit kühner Hand gegriffen hatte. Jetzt erst
verstand er seine Seelenregungen, ihr Aufzucken
in Qual und Not, ihr Erschlaffen in Verzagtheit und
Angst, ihren unnatürlich langen Schlaf und ihre
überlebendige Lebendigkeit. W^s ihm früher nur
sprungweise Erkenntnis war, das verdichtete sich
ihm zu einem erhabenen Bilde. Er verlangte noch
nicht nach einem neuen Werk; die angenehme Er-
schlaffung nach dem Vollbringen hatte ihn noch
nicht verlassen, er vermochte noch, mit Wohlge-
fallen sein Werk zu betrachten, ohne Ahnung des
schrecklichen Dranges, dem er anheimfallen sollte,
wenn er erst seinem Werk ferner gerückt war, die
innere Fühlung zu ihm verloren hatte, und nach
neuer Befriedigung wandern mußte.

Bis in den hohen Mittag hielt er sich auf der
Veranda auf und lebte sich so in den Gedanken,
die idyllische sei eine tragische Landschaft gewor-
den, daß er nicht mehr zu lächeln vermochte. Er
erlebte in sich die Schrecken und Revolutionen
dieser Umwandlung, erlebte jede gewaltsarrfe Deh-
nung mit, die die Berge erleiden mußten, um grö-
ßer zu werden, jeden großen Schmerz, der den
Bäumen zugefügt wurde, damit sie zu Symbolen
der Trauer würden, jeden qualvollen hastigen
Schritt der Menschen in den Straßen, deren gan-
zes Entsetzen vor dem nahen Untergang sich in
ihm konzentrierte.

Fortsetzung folgt

Dortmund

Seltsamer Abende du seltsamster und dunkelster!
Die Eltern waren bei Berghauptmanns zum Diner.
Das mathematische Exercitium hatte ich wieder

mal nicht gemacht,

das schrieb sich morgen früh noch gut genug ab

in der Penne.

Ich stand am Gitter unseres Hofes, ganz in Gallert
der Stearinfabrik von gegenüber.

Und alles in mir wurde langsam weiches Fett,
gerann und prestidigitatierte mich zur Kerze,
auf die wohl bald ein Funken herüber spuckte
vom Gaukelspiegel der andern abendlichen

Lichter.

Indes ich also harrte^

schnob ein Btilldogg plötzlich um mein Bein,
beroch mich, knisterte mit seinen vorgeknöpften

Augen

und sprach mit lieb westfälischem Akzent:

„Du brennst ja scheißlich. Halt die Luft an!“ und

verschwand.

Da packte mich ein mächtig karusselliger Triesel:
Schuh, Strümpfe riß ich mir von meinen beiden

Füßen,

ward Renner um die rosenblätternden Rabatten,
fraß Kiesel und Kiesel mit den Lefzen meiner

Zehen,

zog einen feinen roten Ring in alle schwarzen

Wege

und lag dann — weiß nicht wie —- in meiner Eia.
Mit gelbem Schleim beschlabberte mich der Mond.
Ich fühlte, wie das lähmend auf mir Kruste wurde,
bis es mich schließlich — Luft, Luft! — ganz er-
stickte.

Ein Schrei. Noch einer. Lautes Laufen die Straßen

entlang.

Jetzt schon ganz fern. Doch nah, näher gurgeln-
des Röcheln.

Ein Mord.

Ein Messer hat einen roten Springbrunnen jäh

aufgetan.

Wieder laufende Schritte. Natürlich angenehm

erregte Voyeurs.

O, wie das so plätschert, aufrauscht und Dampf

wird!

Dampf und ein Lied, das lind mich betastet

mit leis klebrigen Händen,

mich naß macht,

ganz lau mich umflutet,

sacht salbt und massiert,

mich gereinigten abbraust

und endlich — o all der Seligkeiten

süßestes Sela! —

mich mütterlich

ertränkt.

Alfred Richard Meyer

Die Mitte zwischen
Extremen

Zur Verhütung eines Mißverständnisses
Von Dr. S. Friedländer

„Diese kleine doppelzüngige Schlange ist immer
in der Mitte zwischen den Extremen, und durch ihr
egoistisches Treiben verhindert sie die vollkom-
mene Entwicklung des einen ad absurdum oder
des anderen bis zum Ideal. Immer in der Mitte
mischt er die zwei Grundfarben des Lebens in eine
Farbe, die tonlos ist und faul und schmutzig . . .“

Und wer sagt es? — Der sehr berühmte Herr
Gorki. Aber eines der verderblichsten Mißver-
ständnisse wird dadurch nicht beseitigt, daß ein so
berühmter Mann es mitmacht, ja sanktioniert.
Also zum Donnerwetter, was will man? — Will
man eine Wagschale ohne Zunge? — Will man
Extreme ohne Mitte? — Ein Ja, ein Nein —
ohne das disjungierende Neutrum ihrer Mitte?

Statt daß dieser Stumpfsinn sich über das
Fehlen der präzis neutralen Mitte, über
schlechte, jüdelnde, schielende, zwitternde,
schillernde Misch-masch - Mitte beklagt, —
macht er d i e Mitte verächtlich. Es ist ein ganz
gottverlassener Blödsinn, Extremen ohne ihre
reinsten, von deren Widerspruch und Gegensatz
reine, Mitte fungieren lassen zu wollen. S o tri-
vial wie alle diese in d e r Hinsicht mit Unrecht
sehr berühmten Herrn sich das denken, ist der
sogenannte goldene Mittelweg denn doch nicht.
Ach nein. Strengen Sie doch ein wenig Ihre tapfere
Urteilskraft an, um klar einzusehen, daß Gegen-
seitigkeit die Bedingung der Möglichkeit aller
Wirksamkeit ist! Und daß diese Gegenseitigkeit
nicht eher präzis funktioniert als bis die Mitte
ihrer Extreme mit der reinsten mathematischen
Genauigkeit getroffen wird. Was kann denn diese
Mitte dafür, daß man sie verfehlt und an ihrer
(von aller Zweideutigkeit befreiten) Statt eine
gräßliche Verkleisterung der Extreme be-
sorgt?? — Wahrste, reinlichste Mitte ent-
scheidet überhaupt erst Extreme! Vor der
Treffung dieser echten, richtenden Mitte, die dem
Extremen jedes Uebereinandergreifen verbietet,
i s t noch gar keine rechte Gegenseitigkeit vor-
handen.

Aber jawohl! Es ist klar, was diese primitiven
Berühmtheiten wollen: Den — Hosianna — end-
gültigen „Sieg des guten Prinzips über dem bösen“,

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