Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

DOI Heft:
Nummer 164/165 (Juni 1913)
DOI Artikel:
Walden, Herwarth: Die Sammelwut
DOI Artikel:
Ehrenstein, Albert: Traum: des achthundertundachtundachtzigsten Nachtredakteurs
DOI Artikel:
Mynona: Die Torturen des Gottes Mumba: Paulo Scheerbartin Züchten
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0045

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Sammelwut

Der Deutsche sammelt. Er sammelt Brief-
marken, Ansichtskarten, Tabakpfeifen, Fahr-
scheine, Schokoladenbildchen. Er sammelt des
Sammelns wegen. Recht wohl fühlt er sich
aber erst, wenn er dem natürlichen Spiel-
trieb einen wissenschaftlichen Schein geben
kann. Der Deutsche ist sehr ernst. Der
Deutsche fühlt sich erst als Doktor wohl.
Deshalb versteht er auch so wenig von Kunst.
Alles muß einen Zweck haben. Die Kunst hat ihn
nicht und deshalb erscheint sie den Deutschen
zwecklos. Um ihr aber doch eine Daseinsberech-
tigung zu geben, wurden die Philologen erfunden.
Sic beschäftigten sich im wesentlichen damit, der
Menschheit die Kunst zu verleiden, indem sie sie
zu einer Angelegenheit der sogenannten Gebilde-
ten machen. In der Schule als Lehrer, an der
Universität als Geheime Regierungsräte. Sie zäh-
len Goethes Verse ab, untersuchen Schillers Toten-
schädel, spüren Heines Liebschaften nach. Sie
kennen die Schulden Mozarts, die Ohrenkrankheit
Beethovens und die Ehen Richard Wagners. Sie
betreten die Stätten, die ein großer Mensch be-
trat. Sie sammeln seine Fiißstapfen, seine Asche,
seine Aschbecher, seine Federhalter, seine Tinte,
soweit sie nicht so vertrocknet ist, wie das eigene
Gehirn. Aber die Zeiten sind schlecht. Tausende
haben schon gesammelt, was in den Kehricht ge-
hört. Die geistigen Müllkisten sind überfüllt.
Nicht der geringste Lumpen der Klassiker blieb
unverwertet. Uebrig blieben nur die Philologen.
Arbeitslose. Die lebenden Künstler leben eben
noch. Sie dürfen erst nach dreißig Jahren ver-
wertet werden. Da hilft den Arbeitslosen das
neugegründete Deutsche Buchhandels-
archiv. Warum soll man, so sagten sich die
Herren, nur Gegenstände und Schriftstücke be-
rühmter -toter Künstler sammeln? Nein, man
sammle alle Gegenstände und alle Schrift-
stücke. Die Archivare haben Arbeit und unter
ihrem Gehirn wird alles Wissenschaft. Das
Deutsche Buchhandelsarchiv richtet an alle Buch-
händler und Verleger (wörtlich) „die Anfrage, ob
sich in Ihrem Besitze . . . Material befindet, das
zur Vernichtung bestimmt ist, oder das Sie, ohne
es der Vernichtung preisgeben zu wollen im Inter-
esse der Raumausnutzung gern ausscheiden wür-
den, oder das bei Ihnen lagert, ohne für Sie von
Wert zu sein oder in absehbarer Zeit einer Ord-
nung und Verwendung entgegen zu sehen . . .“
Das alles sammelt von nun ab das Deutsche Buch-
handelsarchiv. Ausdrücklich gewünscht werden:
Geschäftspapiere, Briefwechsel und einzelne
Briefe, Konzepte und Entwürfe, Akten und Akten-
kopien, Inventarstücke aus älterer und alter
Zeit. Das alles wird dort gesammelt, registriert,
numeriert, und für ewige Zeiten aufbewahrt. Kein
Löschblatt aus älterer Zeit, keine Faktur aus alter
Zeit kann mehr umkommen. Jeder Briefwechsel
findet seinen Herausgeber, jedes Konzept seinen
geistreichen Erklärer, jede Aktenkopie seinen ori-
ginalen Doktor. Die bekannten ungeahnten Per-
spektiven eröffnen sich wieder einmal. Was dem
deutschen Buchhandel nichts mehr wert ist, kann
auch der gesamte übrige Handel entbehren. Jeder
Handeltreibende hat einzelne Briefe, Entwürfe,
Aktenkopien und vor allem ältere Inventarstücke.
Hin damit zu den Männern der Wissenschaft.
Jedes Material, das zur Vernichtung bestimmt ist,
läßt sich sammeln und ordnen. Bei Lebensmittel-
firmen können die Chemiker zu Hilfe gezogen
werden, um die Inventarstücke aus älterer Zeit
der unverdienten Vernichtung zu entziehen. Alles
was besteht, ist wert, daß es gesammelt wird.
Raum für alles hat das Archiv. Das Deutsche

Buchhandelsarchiv hat die letzten Möglichkeiten
für Philologen erschöpft. Trauernd steht nur der
ehrbare Lumpensammler vor den leeren Müll-
kästen. Freudig atmet die deutsche Kunst auf.
Sie ist die Gebildeten los und kann sich wieder
dem freien Menschen in die Arme werfen.

H. W.

Traum

des aehthundertundaehtund-
aehtzigsten Naehtredakteurs

Von Albert Ehrmstein

Und Schahrazad bemerkte das Grauen des Ta-
ges und hielt inne in der verstatteten Rede. Doch
als die achthundertundachtundachtzigste Nacht da
war, fuhr sie also fort: „Ich vernahm, o glück-

licher König, daß im Lande der besoffenen Ströme
ausnahmsweise ein geiernasiger Jüngling lebte, der
gern im Schlafe ertrank imd da er wenig arbeitete,
Hunger trieb. Seine Sehnsucht und Begierde ging
gleichwohl nach dem Faulen unerreichbar Ge-
würze und wegen dieser seiner dicken Gewohnheit
nannten ihn die Ungläubigen Schinkenstern.

Als er eines Tages seinen Magen nach den Mar-
zipaninseln traumwandeln ließ, überfiel ihn ein
Schnellzug und ließ nicht ab, ihn davonzutragen,
bis alle Kohlen verdampft waren. „Dies ist nicht
das Land des Safrans und der Wohlgerüche“ jam-
merte der Entführte, als er sich nach einem wahn-
sinnig schrillen Pfiffe in einer robusten Halle aus-
gesetzt sah. Weil es notwendig war. brach er die
Dämmerung seines Geistes ab und' suchte nach
einem Sofa, wo er sein Haupt niederlegesi könnev
Weiter strichen seine Pläne nicht, und indem er an
einem Hotelportier vorbeiging, erreichte er es,
mehrere Meldezettel ausfüllen zu dürfen. Nach-
dem er .diese Dämonen besiegt hatte, warf er sich
in den Schlaf, ob ihm vielleicht die Deutung der zü
erwartenden Träume seine innersten Gedanken
enthülle. Doch der Schlaf spie ihn rücksichtslos,
traumlos wieder ins Leben aus und als der Un-
glückliche zum abertausendstan Male kläglich im
Raume erwachte, veranstaltete er einige Augen-
blicke der Besonnenheit. Aber ehe er etliche Ver-
nünftigkeiten ausgeheckt hatte, verdrängte der
Schrei nach einer Buttersemme! das Qekrächz
seiner Seele. Als er dann, noch verdauungsmatt,
seinen Kopf aufzusetzen versuchte, fand sich dieser
nicht und so beschloß er, seine Leiblichkeit vor-
läufig dem Hin und Her des Zufalls zu schenken.
Keinesfalls war er jedoch geneigt, allzu hündische
Arbeit zu tun und wollte lieber die Verhandlungen
mit der Erde abbrechen. Er begann also über die
Oberfläche der fremden Straßen als ein gemäßig-
ter und nicht ganz zielloser Spaziergänger hinzu-
gleiten. Seine Augen grasten ruhig die Erscheinun-
gen ab und fielen schließlich in die Blätter, aas
denen sich zahlreiche Toren über den Gang der
Gestirne zu unterrichten versuchten. Da schlug in
ihn ein schnelles Erinnern und seine futterwitternde
Geiernase, die ihm aus einem Spiegel entgegen-
grinste, bestärkte ihn zu einer seeilosen Zeit in ge-
wissen Betrachtungen. Er besaß zwar keine Feder
der Fülle, aber an Schalttagen drangen tollkluge
Worte aus ihm. Wenn er auch bezweifelte, daß
diese seltenen Schalttage je sein gäitzes Jahr an-
stecken würden, war er sich doch einer beschei-
denen Kenntnis einiger, aber bei ■Weitem nicht
aller Gesetze der Interpunktion bewußt und ver-
dammte sich kalten Herzens dazu, von seiner
Durchschnittssprache zu leben. Dieszwecks legte
er Zylinder an und ehe er sich noch hatte warnen

können, verscholl er in einem Verlagsgebäude. Er
hätte besser getan, sich des Zephirs der Welt za
berauben. Denn als er vor den Journalisten der
Zeit trat, zersetzte ihn der Druckgewaltige folgen-
dermaßen: „Du gehörst zu den weltfremden Si-
riusochsen und bildest dir zwar nicht den Besitz
des Stilmonopols ein, bist aber trotzdem stolz dar-
auf, als erster den Ipunkt unter dem I befestigt
zu haben. Ich kann jedoch nur eine rechtschrei-
berische Schreibmaschine brauchen.“ Da ließ sich
der Verräter Schinkenstern sterben, er antwortete:
„O, König der Zeitung, ich höre und gehorche.
Ich w a r ein Ifrit von den Marids der Dschann und
bin bereit, den Eid auf das Zeilenhonorar abzu-
legen. Ich habe es eilig, ins Nichts zu hasten. Ich
war mitunter die Zunge der Dinge. Werde ich es
weniger sein, wenn ich mich zur Stimme des
Rindviehs mache? Möge ich bald an einem Druck-
fehler sterben!" „Ich sehe, du gehörst zu den
schwachen Zugtieren, die. statt ein Ende zu setzen,
ihren unüberwindlichen Magen anklagen, o Halb-
dichter!“

Es wird berichtet, daß der Geiernasige zunächst
zum Besprechungsliteraten herabsank, einer jener
vielen Kritikastraten und Verschnittenen wurde, die
eifersüchtig den Harim des Ruhmes bewachen. Er
ward eine kahle Negation, legte sein Gehirn bloß,
exhibitionierte mit der raschwachsenden Glatze der
Weisheit, aber seine Seele war im Uebersatz. Er
schrieb nur Kartoffeln, und die Worte der Dichter
verdienten, mit Nadein in die Spitzen seiner Augen-
winkel geschrieben zu werden. Da bemerkte er
endlich das Graue seines Tages und hielt inne in
dem verstatteten Leben. Allah übersetze ihn nicht!

Die Torturen des
Gottes Mumba

Paulo Seheerbart in Züchte«! 5 •

Von Mynpita

Mumba, der schalkhafteste Gott des dreckige«
„Sternes“ Erde — Stern klingt schon jüdisch! —
Mumba wollte grausam sein, er hatte die Erde
im Magen. Und er wollte doch wieder nicht
grausam sein, denn er liebte die Erde: Mumba
grübelte. Seine Gottheit legte ihm die Verpflich-
tung auf, zu lieben, es gut zu meinen; ein Gott,
der nicht gut ist, ist ein Teufel. Und doch wurde
Mumba des Teufels, wenn er die dreckige Erde
roch. Aber gerade der wollte, mußte er gut sein,
kraft seiner Gottheit. Er grübelte tief. Ach
Mumba. Er fand die Erde zu menschlich. Die
Menschlichkeit war der Erde bis ins innerste Ge-
bein gedrungen. Der Granit hatte so was Sup-
piges angenommen. Die Luft sah aus wie ein
Brautschleier. Die Beben der Erde grollten schon
doktrinär moralisch: es gab didaktische Gewit-
ter, religiöse Platzregen, rhetorische Orkane,
scheußlich ästhetisierende Landschaften, predi-
gende Himmelsröten, blaustrümpfige Wolken. Die
Verderbnis hatte vom Menschen aus bereits die
bekannten drei Reiche durchsucht. Kristalle,
Chemikalien kriegten was Artefaktes, Mathema-
teskes. Pflanzen wuchsen so recht ä la Schiller
„unbewußt“, mit ihrer Schamlosigkeit und Un-
schuld prahlend. Und die Tiere — Gott steh uns
bei! Die wilden sahen peinlich gelehrt aus, man
kann es picht anders sagen, wie’wenn sie Bril-
len auf der Nase hätten. Der ganze Klimbim hatte
was; ProfesSoräles: Nun erst die geliebte Mensch-
heit selbst: samt und sonders „gebildet“; es gab
keine Indianer mehr, keine Afrikaner, keine Orien-

42
 
Annotationen