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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 166/167 (Juni 1913)
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Walden, Herwarth: Puppchen
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Lotz, Ernst Wilhelm: Allein
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0053

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Puppehen

Das Volk der Gebildeten wälzt sich. In
das Theater. Vor Lebensfreude. Puppchen, mein
süßes Puppchen. Ganz Europa singt es. Der Müll-
kutscher und die Dame der allerhöchsten Gesell-
schaft versichert, daß Puppchen ihr Augenstern
ist. Das junge Mädchen aus guter Familie, das
kein Staubfleckchen duldet, nimmt diese dreckigen
Worte in ihren reinen Mund. Niemandem wird übel.
Man bejubelt die Modernität, das soziale Gleich-
gewicht ist geschaffen. Standes-, Klassen-, und
Rassenunterschiede sind verschwunden. Dieser
Schlager hat sie nicht geschlagen, aber er hat sie
alle, alle offenbart. Sie fanden alle ihr geheimes
Verhältnis zur Kunst. Ihr illegitimes natürlich, da
die Kunst sich nicht prostituieren läßt. Denn die
Gebildeten Europas und die Ungebildeten ver-
stehen unter Kunst das, was sie zu leben glauben.
Sie leben nicht, sie sind nicht verlebt, sie werden
verlebt, weil ihnen die Erde mit Vorstellungen
verstellt ist, über die sie nicht springen können. Ihr
Gehirn ist gefüllt mit klebrigen Begriffen, die sich
nie haben greifen lassen. Denn jeder Begriff be-
steht aus etwas Unbegriffenem. Sie klammern
sich an Zeugen, die versagen. Man kann sich
nicht erinnern, denn jede Erinnerung ist unleben-
dig, also unkünstlerisch. Leben heißt schaffen
und Schaffen heißt Künstler sein. Der Nichtkünst-
ler leidet, er wird geboren, der Künstler handelt,
er schafft sich selbst. Der Künstler gebiert nicht
sein Werk, sein Werk schafft sich in ihm. Nie ist
Kunst, was gemacht wird. Leser, sagt Alfred
Mombert, der du dies liesest bei der Nachtlampe,
das wirst du nie begreifen. Und das ist gut so.

Aber den wenigen Künstlern dieser Erde soll
Puppchen zeigen, von welchen Leichen sie um-
geben sind. Sie sollen auch den geheimsten Ge-
danken aufgeben, sich verständlich zu machen.
Keine Brücke führt vom Leben zum Toten, da das
Leben nie tot wird.

Vier Deutsche tun sich zusammen, tragen sich
in das Vereinsarchiv ein, vergeben ihr Eigentum
für alle Länder und Rußland und Amerika, behalten
sich sämtliche Verlags-, Uebersetzungs-, Arran-
gements- und Aufführungsrechte vor, und die
Posse mit Gesang und Tanz in drei Akten ist
fertig. Um so mehr, als die Herren Hugo Baruch
und Co. (Hoflieferanten) natürlich gegen ent-
sprechende Vergütung Ausstattung und Dekora-
tionen liefern, eine andere Firma sich mit Herren-
ulstern, eine dritte mit Uniformen, eine vierte mit
einem Kostüm, eine fünfte mit einem Fahrrad und
eine sechste mit Ferngläsern sich gleichfalls gegen
entsprechende Vergütung beteiligt. Nach diesen
erheblichen Unkosten sparen die vier Urheber
nicht etwa mit Mühe. Der Schweiß der ganzen
Nation dringt aus ihrem Werk. Der Geruch bleibt
trotz dem Nichtvorhandensein von Poren uner-
träglich. Er wird deshalb in Musik vergast, da
Musik am besten den letzten Rest jeder körper-
lichen Funktion betäubt. Wo man singt, soll man
sich niemals ruhig niederlassen, alle bösen
Menschen haben Lieder.

Der Vorhang geht auf. In solchen Fällen stehen
immer Zigeuner auf der Bühne. Begriff des Zi-
geuners: Freie Liebe. Urheberrechtlich übersetzt:
Die Bande kann sich das leisten und hat nicht ein-
mal einen Alimentenprozeß zu fürchten. Die vier
Urheber lassen die Zigeuner singen: „. . . die
tanzen zu der Fiedel und selbst im größten Herze-
leid, da singen sie ihr Liedei.“ Zigeuner haben
nämlich immer Herzeleid, wenn sich Urheber mit
Liedein auf ihre Fiedeln stürzen. Zigeunerinnen
sind schon philosophischer. Auch dem Verstand
muß sein Recht werden: „Die Welt ist rund, die
Welt ist schön.“ Die Folge: „Zigeunerkind das

muß sich drehen und tanzen, tanzen immerzu.“
Die Folge: „Zigeunerkind hat keine Ruh’!“ Nach
dieser Gefühlserleichterung muß immer der Mon-
dänität ihr Recht werden. Urheberrechtlich über-
setzt: ein Auto müßte man mindestens schieben,
die Luftschiffabriken sind noch zu sehr auf der
Höhe. Es treten, ohne Protest, die Mitglieder des
Kaiserlichen Automobilklubs auf. Die vier Urheber
lassen sie das singen, was sie bei dem Wort
Kaiserlicher Automobilklub empfinden: „Ja, wir
sind stets feudal, ideal, kollossal! Der K. A. C.,
der hat Renomme.“ Mit dem könnte die Kon-
kurrenz noch manche gute Geschäfte machen.
Denn, singen die vier Urheber: „Der Kaiserliche
Automobillub, der geht noch über Krupp.“ Und
überhaupt: „Bei der Damenwelt immer kühner
Held das sind wir.“ Gedanke der Männerw eit,
urheberrechtlich übersetzt: wenn ich meiner Klei-
nen, . . ., die haben es leicht. Denn: „Ist ja Kin-
derspiel, kommen stets ans Ziel, lachen nur über
jedes Liebesweh.“ Gedanke der Männerwelt:
wenn man doch auch seine Liebeswehen während
der Fahrt abmachen könnte, Alimentenprozesse
fast ausgeschlossen. Nach der Mondänität muß
immer der Volkstümlichkeit ihr Recht werden.
Lichtgestalt nach Julius Wolff und Sudermann.
Der reiche Amerikaner, der für tausend) Pfund sich
„jede kleine süße Fee“ holt. Die deutsche Licht-
gestalt denkt nicht daran, sagt sie, aber sie macht
es schon billiger oder sie will noch mehr dabei
herausschlagen. Der Gentleman kennt sich aber
aus und singt deshalb mit Hilfe der vier Urheber:
„Wartet ab, seid nur still, der Gentleman kauft
sicher was er will.“ Nach der Volkstümlichkeit
das Gemüt. Walzerlied: „Welches Glück, durch
einen Blick so ganz einander zu verstehen, Hand
in Hand durchs Liebesland in seligem Vergessen
gehn.“ Ja, die Liebe. Man glaubt gar nicht, was
die Liebe theoretisch fähig ist. Den vier Ur-
hebern wird es bei dem Wort Liebe warm um
das Gehirn. Sie erinnern sich an alles, was sie
je über Liebe in der Schule gelernt haben. Auch
das ganze deutsche Volk erinnert sich mit Ver-
gnügen. Man möchte so gern lieben, aber die
schlechten Zeiten. . . . Das Walzerlied ist po-
pulär. Die gemütlichen vier Urheber haben dem
Gemüt verständliche Worte und Töne (Freunde,
nicht mehr diese Töne) gegeben. Und Deutschland
über alles singt:

Das kann ein Herz nur, welches liebt,

Das kann nur Liebe sein.

Das man sein Allerletztes gibt.

Kann Liebe nur allein!

Wenn man sein Allerletztes gibt.

Das kann ein Herz nur, welches liebt,

Das kann nur wahre Lieb’ allein,

Kann Liebe nur allein.

Die vier Urheber und der Rest des deutschen
Volkes quetschen ihr Allerletztes heraus, um die
nur wahre Lieb’ zu verquatschen. Und mit dem
Weltgefühl, Menschen san mer alle, beteuern sie:
„Die Liebe ist ein Talismann, ohne Groll, vertrau-
ensvoll, schließt Euch einander enger an!“ Luft,
Luft. Nach dem Gemüt muß immer dem Humor
sein Recht werden. Couplet. „Geh’n wir mal zu
Hagenbeck, so’n Teddy ist ein lieber Schneck.“
Nutzanwendung auf den bewährten deutschen Fa-
miliensinn: „Lehmann hatte eine Olle — die war
äußerst rabiat, war sie wütend — diese Bolle —
wußte sie nicht, was sie tat! Geh’ doch mal zu
Hagenbeck, der kooft sie ab dir gleich vom Fleck.“
Nach diesem Humor wird selbst dem Vorhang übel.
Er fällt. Das Publikum steigt in das Foyer, nicht
ohne zu summen: das kann nur wahre Lieb, allein,
kann Liebe nur allein. Der Scheinwerfer weist
begeistert auf Stiller hin.

Nachdem sich der Vorhang erholt hat und das
Orchester die nur wahre Lieb’ allein intoniert, zeigt
sich die Mondänität in der Baruchphantasie einer
Bar. Fest des reichen Amerikaners. Lebens-
freude. Die Damen der Gesellschaft enthüllen sich
bei Wort und Ton der vier Urheber: „Wir
Mädchen von der Wolkenbar verstehen das Mi-
xen wunderbar, ein bischen Wein, Weib und Ge-
sang, das mixt man gern sein Lebenlang.“ Wein,
Weib und Gesang kleben in deutschen Köpfen
stets zusammen. Alles zu koofen. Die nur wahre
Lieb’ allein für Mark 1.80. Folge dieser Mansche-
rei: Erotik mit Weltanschauung. Das, was die
vier Urheber Mann nennen, also es ist: „Du bist
kokett — nun ja, s’ ist so der Brauch, doch Ko-
kett’rie hat ihre Grenzen auch.“ Das, was die
vier Urheber Frau nennen, also es ist: „Sagen die
Leute, du seist kein Mann, Schätzchen — mach’
dir nichts draus, s’ gibt eine, die’s besser wissen
kann.“ Und nun, nach solchen Vorbereitungen,
treffen die vier Urheber das deutsche Volk an
seinen Sinn ohne Verstand. Die Männerwelt und
die Damenwelt, die große Welt und die kleine
Welt, die Halbwelt und die ganze Welt jubelt:
Puppchen, du bist mein Augenstern. Die vier Ur-
heber versetzen sich in das Idealgemüt ihres mon-
dänen Frauentyps. Puppchen ist der Mann, der
Herr, der Gentlemen, mit einem Wort der Schieber.
Nicht,, ohne daß sie kraft der angeborenen deutsch-
dichterischen Phantasie Puppchen mit allgemein
rührenden menschlichen Zügen nach ihrem Eben-
bild und mit Hilfe von Baruch ausstatten: „Pupp-
chen, hab’ dich zum Fressen gern, Puppchen, mein
süßes Puppchen, nee — ohne Spaß, du hast so
was!“ Das wäre der Typ. Der rührende Zug
hingegen: „Wenn ich ein Schätzchen hätte, das
richtig gehend wär, nicht bloß solch ’ne Kokette,
wo’s Herz ist alles leer.“ Mit der Moral: „Sich
nicht blos Hausfrau nennen, wie es heute leider
Brauch.“ Mit dem Familiensinn: „Es muß ein
kleiner Racker, so voll und rundlich sein.“

Dieses blöde Gestammel ist das Herz der Erde
im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahr-
hunderts. So drückt Europa seine Lustgefühle
aus. Die vier Urheber gaben dem bekannten Volk
der Dichter und Denker hierfür Worte und Töne
zurück, die in gesättigtem Busen schliefen. Selbst
die Wachsfigur der wildenbrüchigen Helden kam
auf den Kehricht. Und herausgeholt wurde das
baruchige Puppchen. Reich aber schlecht ange-
zogen glotzt es aus blöden Augen auf Puppen und
Larven, die das Kleizeug zum Fressen gern haben.
Du hast so was. Blinde begröhlen den Augenstern.
Ihnen leuchtet kein Auge und kein Stern. Und
nie wird ihnen die Kunst scheinen.

H. W.

Allein

Allein. — Ich bin allein. — Ich bin erstaunt dar-
über, allein zu sein.

Wie ich auf einmal da bin, vorhanden bin!

Schräg vor mir brennt meine Petroleumlampe.
— Das ist nicht wahr: Auf meinen Tisch steht je-
mand, der eine brennende Lampe ist. — Ich bin
ja allein.

Kleine, schwarze Käfer drücken mit wellenar-
tigem Summen an meine Schädeldecke. — Es ist
Mai. Wir schreiben heute den zweiten Mal —
Jemand hat Maikäfer gepflückt und in meinen Kopf
gesteckt. Sie wimmeln schließlich heraus und
krabbeln über das weiße Blatt unter mir. Ich be-
trachte sie. Sie sehen trocken und knusprig aus.

Von rechts ruft mich wer. Er hat eine rote,
parfümierte Stimme. Ich verstehe ihn. Er bietet

so
 
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