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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 170/171 (Juli 1913)
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Hausenstein, Wilhelm: Vom Kubismus
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Hatvani, Paul: Die Stimme der Zeit
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Babillotte, Arthur: Die Schwermut des Genießers, [8]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0073

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Tage sah ich sehr schöne Derains, die mich an eine
Renaturalisation der Malerei glauben lassen. Sie
haben viel sinnliche Substanz; sie unterscheiden
sich sehr von dem abstrakten Enthusiasmus der Pi-
casso, Juan Qris, Braque. Und doch fühlte ich, daß
der Kubismus hier im Hintergründe steht, daß der
neue Derain ohne den Kubismus nicht möglich
wäre.

Wir können kaum werten. Wir können nur
aufnehmen, registrieren. Es wird sich zeigen, ob
der Kubismus rein an sich fortbesteht und eines
Tages einem klargewordenen Geschlecht die Fülle
der Genüsse gibt, oder ob der kubistische Radika-
lismus lediglich ein dialektisches Mittel der Ent-
wicklung ist, um die letzen Fragen der Form zu
klären. Das zweite ist der Kubismus zum minde-
sten gewesen. Ich glaube, er wird sich eines
Tages in bestimmten Grenzen auch des Ersten
rühmen können — selbst wenn er auch nur der
spezielle Versuch einer kleinen Gruppe gewesen
sein sollte.

Wilhelm Hausenstein

Die Stimme der Zeit

Von Paul Hatvani

Das kosmische Achselzucken, das immer bereit
ist, die Erscheinungen des Geistes etwa so zu er-
ledigen, wie eine Pendeluhr das Erdbeben, — die-
ses Achselzucken ist die verständnisinnige Gebärde,
mit der sich das, was sich Welt nennt, über die
Welt hinwegsetzt. Jenseits dieses Verstehens aber
beginnt das Reich des Geistes. Oh, welche Fülle
von Ausdruck auch in den kleinsten Dingen! Welch
ein Glück ist es, im Bereich der mannigfaltigen
Dinge und Ereignisse zu stehen! Wie bäumen sich
die Bäume! Wie blühen die Blüten! . . . Und
manchmal ist es ein Ebenbild Gottes und ich fühle,
wie sich der Sinn der Welt fromm verneigt vor
der Seele des Herrn.

.. Die Zeit aber lebt an den Dingen vorbei.
Aus Religion wurden Sekten und aus der Liebe
entsprang die Heirat. Aus Kunst wurde Mode nd:
aus der Oper die Operette. Die Zeit ist die Zeit
des Kleinlichen. Wo sich Mehrere zusammentun,
um ein Ganzes zu bilden, entsteht aus den Fäul-
nissen der Gesellschaft der Bacillus der Verfla-
chung. Die Sociologie ist keine Wissenschaft, son-
dern die Ausrede, daß ein Uebel auch dadurch
entstehen könne, wenn es mehr als zwei Menschen
gibt. Ein Mensch: da ist das Problem der Kunst
entstanden. Und Gott nahm die Rippe . . . zwei
Menschen: das Problem des Geschlechtes. Drei
Menschen, und vier und fünf . . •: also entstand
die Hölle auf Erden. Und Kain erschlug den Abel.

. . Die Gesellschaft ist ein Parasit am eigenem
Leibe. Die Säfte ihres Organismus gehen einen
halben Weg. Und ohne die Weihe der Lust er-
lebt zu haben, schändet sie sich und ist ewig
schwanger, ohne gebären zu dürfen. Ihre Veran-
staltungen sind Gelegenheiten, um den Heiligtümern
des Eros ein Schnippchen zu schlagen. Eine Ope-
rette ist nicht nur eine Operette, sondern auch ein
Teil jener Lustigkeit, die zur Lust führen soll. Ein
Ball ist nicht nur ein Saal voll hinkendem Rhyth-
mus, sondern auch ein Teil von den Rhythmen
zwischen Mann und Weib- Ein Roman von Hanns
Heinz Ewers ist nicht nur spannend, sondern auch
ein Teil jener Potenz, die der Impotenz die Freude
am Dasein erhöht.

Und nur der Künstler ist allein. Zwischen
allen diesen Kreaturen ist er das Ebenbild Gottes.
Und er lebt von den Dingen um sich. Die andern

haben Tradition und leiten sich ab nach Gesetzen
und Gebräuchen. Und dabei verursachen sie einen
Lärm, der die Stimme des Künstlers versiummen
macht. Es gibt keine Propheten mehr im Lande
und keine Wunder geschehen und kein Zeichen ist
am Himmel. Aber manchmal, zwischen Worten
von Lust und Leid, zwischen den Farben auf einer
Leinwand und zwischen den Rhythmen der Musik
erscheint wieder das Wort Gottes. Und es ist wie
in den Tagen vor Golgata: höret, ich verkündige
euch das Wort Gottes.

Denn das Wort des Künstlers ist Gottes Wort
und es übertönet die Stimme der Zeit.

Die Schwermut des
Genießers

Roman

Von Artur Babillotte

Fortsetzung

Der Arbeiter warf überrascht den Kopf zurück,
als wolle er einer Stimme lauschen, die aus dem
unergründlich tiefen Nachthimmel herabfiel. Dann
sagte er mit einem freudigen Zittern um die
Mundwinkel:

Das hab ich schon manchmal gefühlt. Der
Glaube an sich selbst ist heuzutage den meisten
verloren gegangen. Sie haben keinen eigenen
Willen mehr, sie lassen sich lenken und vom
Stärksten drehen und wenden, wie es seinen
Launen gefällt. Das ist schrecklich, besonders in
unserer Stadt. Sie kennen unsere Stadt nicht,
Herr. Sie kennen nur ihre Straßen, die Gesichter
der Ladenbesitzer, vielleicht auch die einiger Be-
amten. Sie kennen einige aus dem Konservatori-
um, Lehrer und Schüler. Aber unsere Stadt ken-
nen Sie nicht. Das, was sie wirklich ist, das haben
Sie noch nicht gefunden. Das findet auch nur der,
der mit ihr verwachsen, in sie hineingewachsen
ist . . .

Mit einem tiefen Atemzuge unterbrach er seine
Worte und strich sich den Schweiß von der zer-
grübelten Stirn. Johannes staunte. Hier hatte er
einen Menschen gefunden, der ohne Haß und Ver-
bitterung aus einem großen Weh, das er für die
andern empfand, nach Erlösung rief. Die eintönige
Melodie eines schwer dahin strömenden Massen-
lebens begann in ihm zu tönen; alle überschwäng-
liche Pracht der Farben und Linien schien er-
loschen. Noch halb berauscht von der Erkenntnis
eines neuen Werkes, nahm er diesen Gang durch
die Nacht an der Seite des Arbeiters als ein Gna-
dengeschenk. Der Nachhall des Entsetzens vor
dem Klang des langsamen, verhalten drängenden
Schrittes verstummte.

Erzählen Sie mir von Ihrer Stadt, bat er. Er-
zählen Sie mir alles, was Sie von ihr wissen.

Der Arbeiter erzählte schlicht.

Ich bin in dieser Stadt geboren. Als kleines
Kind hab ich sie kennen gelernt. Sie war immer
freundlich und heiter. Aber ich konnte mich nie
so recht über sie freuen. Der Vater trank, die
Mutter kränkelte immer und ging unter der Ar-
beit für fremde Leute langsam zugrunde. Tagaus,
tagein wurde ich gescholten und geschlagen, oft
mußte ich hungern und frieren. Aber ich kannte
nichts besseres und wäre nicht bitter geworden,
wenn die Stadt nicht so freundlich und heiter ge-
wesen wäre. Das tat mir weh. Wenn ich durch
ihre Straßen ging, nicht schreiend und lärmend
wie andere Kinder, sondern still und traurig und

die Sattheit dieser Häuser und Menschen sah*
empfand ich einen schweren Druck. Anfangs,
staunte ich über die lachenden, tollen Kinder. Und
wenn ich versuchte, es ihnen gleich zu tun, konnte,
ich es nicht. Dann kam immer das Elend hinter-
her, die scheltende Stimme des Vaters und die
traurigen Blicke der Mutter . . . Aber das ist 7ü
Nebensache, wie es mir als Kind erging; ich wollte
Ihnen von der Stadt erzählen.

Bei diesen unaufdringlich gesprochenen Wor-
ten kam der Künstler in eine Stimmung, als würde:
er von einer großen Welle hinausgetragen in ern-
unbekanntes Meer voller Ueberraschungen. Die
Erinnerung an sein eigenes mehrmonatliches Klein-
stadtleben begünstigte diese Teilnahme, eine Er-
innerung, die sich nur auf ein fast stumpfes In-den-
Tag-hinein-leben erstreckte. Damals war er ohne
große Wünsche gewesen, hatte alle Stunden in
schmerzlichen Gedanken an Mia Mirana verbracht,,
ohne Blicke für das Leben der Kleinstadt, das ihn
wie ein stehendes Gewässer umgab. Es war eine
Reihe öder untätiger Monate gewesen, aus denen
er endlich durch die Empfängnis seines Werkes
gerettet wurde. Dann kamen die Tage eines ziel-
losen Umherschweifens, eines Eintauchens in jede
Landschaft, die der jeweiligen Stimmung ent-
sprach. Von der Art des Kleinstadtlebens aber
war keine Spur zurückgeblieben. Er trug sie
vielleicht unbewußt mit sich, wie er unbewußt das
Mitleid mit den Proletariermassen seit jenem Abend
vor der Fabrik in sich trug; und es bedurfte nur
einer Stimmung, damit er die Physiognomie der
kleinen Stadt als etwas Vertrautes zu erkennen,
vermochte. Eine Reihe von Sätzen, die Jörg Mar-
tin unterdessen gesprochen hatte, waren ihm ver-
loren gegangen. Nur allmählich kehrte ihm die
Empfindlichkeit seines Gehörs zurück und folgte
der Erzählung.

Sie kennen alle nur ihren Vorteil, sagte der Ar-
beiter. Ihr erster Gedanke beim Erwachen und
ihr letzter vor dem Einschlafen ist der, wie sie
wohlhabender werden. Man muß nur ihre Gesich-
ter ansehen; sie schmunzeln in selbstzufriedener
Sattheit und verraten durch diese Sattheit Gier.
Sie bilden Parteien, um ihre Machtgelüste besser
befriedigen zu können. Sie veranstalten Festlich-
keiten, um sich zügellos geben zu dürfen. Sie
gehen zur Kirche, um ihr Ansehen bei den andern
nicht einzubüßen. Sie sind berechnend, selbst in
ihrer Liebe. Wjenn einer von ihnen ein Mädchen
liebt, fragt er vor allem: hast du Geld? Wenn sie
keins hat, wird ihre Liebe verspottet.

Johannes zwang etwas, dem Arbeiter das Wort
abzuschneiden. Dieses Bild der gierenden Men-
schen sprengte den Rahmen der Kleinstadt, seine
Formen vermochten den Rahmen der Menschheit
auszufüllen. Dies sagte er dem Arbeiter. Der
lächelte zustimmend. Er erzählte von dem un-
sichtbaren Gitter, das rings um die Stadt lief, und
das keiner übersteigen konnte, der nur seinem Vor-
teil nachjagte. Von dem schrecklichen Einfluß, den
die Atmosphäre aus sonniger Güte voll versteck-
ter Rücksichtslosigkeit auf den Menschen ausübe,
der gezwungen sei, sie einzuatmen. Seine Worte,
wurden straffer, seine Gebärden entschiedener
und seine Forderungen betonter. Hier stand er
auf einem Boden, den er sich erarbeitet hatte..
Hier lag seine Kraft im klaren Betrachten und
seine Unkraft im Erreichten künftigen Heiles.

Ueberall ist diese Gier nach Selbstbereiche-
rung, sagte er, während seine Arme einen weiten
Bogen beschrieben. Rundum, wohin man blickt.
Auf dem Lande, in der Großstadt, im Gebirge und
in den kleinen Städten. Aber ich glaube, nirgend-
wo sonst ist sie so häßlich wie bei uns. Und ich
denke, so wird es in allen Kleinstädten sein. Ich
habe darüber nachgedacht, warum es gerade ben

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