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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 172/173 (August 1913)
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Schwob, Marcel: Die Leichenfrauen
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Müller, Günther: Vergottung in Marie
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0078

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wenig umfangreicher Kuppeln, und Ophelion
meinte, sie genau zu betrachten wäre nicht un-
nütz. Es wurde, wie gewöhnlich in Libyen, rasch
Nacht, und als wir an die Erhöhungen heran-
kamen, war dichte Dunkelheit um uns. Die Kup-
peln tauchten aus dem Boden, doch vorerst konn-
ten wir keinen Eingang entdecken. Erst als wir
den von ihnen gebildeten Ring überschritten hat-
ten, sahen wir, daß sie von mannshohen Türen
durchbohrt und diese alle in der Richtung zur
Mitte angeordnet waren. Die Türfüllung zeigte
sich finster; aber durch enge, rundherum ange-
brachte Löcher sickerten Strahlen, die wie mit
langen roten Fingern auf unsere Gesichter wie-
sen. Auch waren wir von einem uns unbekann-
ten Duft umwallt; uns schien er ein Gemisch aus
Riechwasser und Fäulnis.

Ophelion hielt mich an und sagte mir, daß man
uns aus einem der Kuppelbauten winke. Eine
Frau, die wir nicht deutlich warnehmen konnten,
stand unter der Tür und lud uns ein. Ich zögerte,
aber Ophelion zerrt mich mit sich. Die Vorhalle
war düster, ebenso der Rundsaal unter der Kup-
pel; und sobald wir drinnen waren, verschwand,
die uns gerufen hatte. Wir hörten eine sanfte
Stimme Barbarenlaute flüstern. Dann war diese
Frau wieder bei uns, in ihrer Hand eine rauchende
Lampe aus Ton. Wir begrüßten sie, und sie ant-
wortete in unserm Griechisch, mit libyscher Aus-
sprache, und hieß uns willkommen. Sie zeigte auf
Betten, die aus gebranntem Lehm mit Abbildern
nackter Menschen und fremder Vögel über-
schmolzen waren, und bot uns Platz an. Dann,
nachdem sie erklärt hatte, sie ginge uns Essen be-
sorgen entfernte sie sich wieder, ohne daß wir
bei dem schwachen Schein des auf den Boden
hingestellten Lichtes hätten beobachten können,
durch welche Oeffnung sie den Raum verließ. Ihr
Haar war schwarz, ihre Augen dunkel; sie trug
ein leinenes Ueberkleid, ein blaues Gürtelband
unter der Brust, und sie duftete nach Erde.

Das Mahl, das sie uns auf Steinzeug und in
undurchsichtigen Gläsern hereinbrachte, bestand
aus einem kronenförmigen Brotgebäck, gefüllt mit
Feigen und eingesalzenen Fischen; es gab kein
Fleisch, nur verzuckerte Heuschrecken; der Wein
war blaßrosa, wohl mit Wasser vermengt, und
schmeckte ausgezeichnet. Sie aß mit uns, be-
rührte aber weder die Fische, noch die Heu-
schrecken. Und so lang ich unter dieser Kuppel
weilte, sah ich sie nie ein Stück Fleisch zum
Munde führen; sie begnügte sich mit einem biß-
chen Brot und gesottenen Früchten. Der Grund
dieser Enthaltsamkeit stammt sicherlich von einem
Widerwillen, den man bald begreifen wird; viel-
leicht auch raubten die Ruchsalben und die Ge-
würze, inmitten deren die Frau lebte, ihr die Lust
an Speise und sättigten sie mit feinen losgelösten
Teilchen.

Sie fragte nicht viel, und wir wagten kaum, sie
anzureden; denn ihre Gebräuche dünkten uns gar
zu fremdartig. Nach dem Essen streckten wir uns
auf unsere Betten; sie ließ uns eine Lampe und
versah sich selbst mit einer andern, viel kleinern;
darauf nahm sie Abschied, und ich gewahrte, wie
sie hinter der Kuppel in eine unter die Erde lei-
tende Höhle glitt. Ophelion war wenig geneigt,
meine Vermutungen mit mir zu beraten, so schlief
ich einen unruhigen Schlaf, bis gegen Mitternacht.

Das Knistern der Lampe, deren Oel kaum noch
den Docht benetzte, weckte mich, und mein Bru-
der Ophelion lag nicht mehr neben mir. Ich erhob
mich und nannte leise seinen Namen; aber er war
nicht unter der Kuppel. Da ging ich in die Nacht
hinaus, und mir war, als ob ich unterirdisch das
Gejammer und Geschrei von Klageweibern ver-
nähme. Dieser widerhallende Klang erstarb plötz-

lich: ich umwandelte die Bauten, ohne daß mir das
Mindeste aufgefallen wäre. Nur ein gewisses
Beben war da, wie von einem Gewühl unter der
Erde, und im Fernen das Trauerbellen eines wilden
Hundes.

Ich näherte mich einem der Löcher, woraus die
roten Strahlen sprühten, und es gelang mir, eine
Kuppel zu erklimmen und hineinzublicken. Da er-
faßte ich die Wunderlichkeit dieser Anlage und
des ganzen Kuppeldorfs. Denn die Stelle, die ich
überschaute, die von Fackeln erleuchtete Stätte,
war mit Toten bedeckt; und zwischen Klagewei-
bern bemühten sich andre Frauen um dicke Urnen
und mancherlei Gerätschaften. Ich sah, wie sie
frische Bauchdecken schlitzten, und die gelben,
braunen, grünen und blauen Därme hervorzogen,
das Geweide dann in Henkelgefäße senkten, den
Gesichtern durch die Nase einen Silberhaken ein-
bohrten, die zarten Knochen an der Nasenwurzel
durchbrachen und mit Spateln das Gehirn heraus-
holten; über die Leichname gossen sie gefärbtes
Wasser, salbten sie mit rhodischem Balsam, mit
Myrrhen und Zinnamon, strichen ihnen das Haar
zurecht, überklebten mit buntem Leim die Wim-
pern und die Brauen, bemalten die Zähne und här-
teten die Lippen, rieben ihnen die Nägel an Händen
und Füßen, bis sie glänzten und umwickelten sie
mit einer Goldschnur. Dann, als der Bauch flach,
eine Mulde, war, der Nabel eingesunken, die Mitte
von kreisrunden Falten umzingelt, dehnten sie den
Toten die fahlen, verschrumpften Finger, legten
ihnen um das Handgelenk und die Fußknöchel
Bernsteinreifen und rollten sie geduldig in lange
Linnenbänder.

Offenbar waren alle diese Kuppeln ein Mumien-
friedhof; hierhin schaffte man aus den benachbar-
ten Ansiedlungen die Toten. Und in gewissen
Gegenden geschah die Arbeit oberirdisch, in an-
dern unterirdisch. Der Anblick eines Körpers mit
zusammengepreßten Lippen, zwischen die man ein
Myrthenzweiglein preßte, entbissene Lippen, wie
bei Frauen, die nicht lachen können und sich ge-
wöhnen wollen, wenigstens die Zähne zu entsie-
geln, flößte mir Schrecken ein.

Ich entschloß mich, sobald der Tag anbrechen
werde, mit Ophelion diese Totenstadt zu fliehn.
Und als ich mich wieder unter unsrer Kuppel be-
fand, setzte ich den Lampendocht instand und ent-
zündete ihn am Herdfeuer unter der Wölbung:
aber Ophelion war noch nicht zurückgekehrt. Ich
begab mich in die Tiefe der Halle und erhellte die
ersten Stufen der unterirdischen Treppe; und von
dort unten herauf ertönte das Geräusch von Küs-
sen. Da zuckten mir die Mundwinkel bei dem Ge-
danken, daß mein Bruder mit einer Leichenfrau
eine Liebesnacht feire. Bald jedoch wußte ich
nicht, was ich denken sollte: durch eine Pforte, die
zweifellos einen ins Innre der Mörtelmauer einge-
bauten Wandelgang abschloß, trat unsre Wirtin
unter das Gewölbe. Sie wandte sich zur Treppe
und lauschte, wie ich es getan hätte. Danach drehte
sie sich um, dorthin, wo ich stand, und ihr Gesicht
war furchtbar. Ihre Brauen stießen aneinander,
und dann stieg sie wie in die Mauer zurück.

Ich fiel in einem tiefen Schlaf. Am Morgen lag
Ophelion neben mir auf dem Bett. Sein Gesicht
war aschgrau. Ich rüttelte ihn auf und drängte
zur Abreise. Er schaute mich an und erkannte
mich nicht. Die Frau kam herein, und da ich sie
bestürmte, sprach sie von einem Pesthauch, der
meinen Bruder angeweht hätte.

Den ganzen Tag warf er sich hin und her, vom
Fieber erschüttert, und die Frau blickte aus starren
Augen auf ihn. Gegen Abend hob er die Lippen
und verschied. Schluchzend umschlang ich seine
Kniee und weinte bis zwei Stunden vor Mitter-
nacht. Dann flog meine Seele mit den Schwingen

der Träume. Der Schmerz über den Verlust Ophe-
lions packte mich und riß mich aus dem Schlum-
mer. Sein Leichnam war nicht mehr an meiner
Seite, und die Frau war auch verschwunden.

Da stieß ich laute Schreie aus, und lief durch
die Halle: aber die Treppe war nicht wiederzufin-
den. Ich eilte aus dem Rundbau, zu auf den roten
Strähl, und drückte meine Augen an die Oeffnung.
Hier, was ich mitansah:

Der Leib meines Bruders war hingestreckt
zwischen Urnen und Schalen; mit dem Haken und
den Spateln aus Silber hatte man ihm das Gehirn
entwunden, und sein Bauch klaffte weit offen.

Schon waren seine Nägel vergoldet und seine
Haut mit Asphalt gebräunt. Aber er ruhte zwischen
zwei Leichenfrauen, die einander so seltsam
glichen, daß ich nicht entscheiden konnte, welche
uns eigentlich empfangen hatte. Alle beide wein-
ten sie und zerfleischten sich die Wangen und
küßten meinen Bruder Ophelion und stürzten ein-
ander in die Arme.

Und ich rief durch die Kuppelöffnung, und ich
suchte den Eingang zu diesem unterirdischen Ge-
laß, und ich rannte zu den andern Kuppeln; aber
ich erhielt keine Antwort, und ich durchirrte ver-
gebens die glasklar blaue Nacht.

Und ich war überzeugt, daß diese beiden
Leichenbestatterinnen Schwestern und Zauberin-
nen und eifersüchtig waren, und daß sie meinen
Bruder Ophelion getötet hatten, damit ihnen sein
schöner Leib verbliebe.

Ich hüllte mein Haupt in meinen Mantel, und ich
floh verstört, hinweg aus diesem Hexenland.

Deutsch von Hegner

Vergottung in Marie

Von Günther Mürr

1

„Also —“ Zögerndes Händefassen.

„Leb wohl!“ Ein Blick und gelöste Hände
Grüßen. „Schlaf gut!“ Auseinandergehn
Das kurze Enden von übervollen Stunden,
denen Zärtlichkeiten alle Zeit genommen haben.
Ganz dünner Schnee sinkt durch das Laternen-
licht

und flimmert in Pünktchen auf den Straßen.

Ich gehe, etwas ermattet, ich fühle Kühle wehn.

Wirst du mich noch lieb haben morgen?

Ich spüre auf meinem Schenkel, wo du gesessen

hast.

Die Küsse von halboffenen Munden,
und die kleine, weiche Brust in meiner trinken-
den Hand.

Es ist noch nicht lange,

daß unsre Worte und Blicke sich tastend suchten.
Nur beim Trennen wollten die nackten Hände sich

nie lassen.

Du hast das Küssen rasch gelernt.

Ueber deiner Traurigkeit lachen Kinderworte.
Schenkel an Schenkel zieht feine Linien.

Dein Denken läuft neben meinem,
zwei Pferde, vor unserm Schweigen.

Deine Haut war kühl in der Parkkühle,
und deine Worte lindern,
als läge deine geküßte Hand auf meiner Stirn.
Ich spüre noch den Druck deiner Glieder,
und wie der Kopf ergeben zurücksank,
und die traurigen blauen Augen wurden dunkel,
staunend, daß es auch Wonnen gibt.

Ich möchte dein Haar wieder offen sehn.

7S
 
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