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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 196/197 (Erstes Februarheft)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht, [3]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0175

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venn er seines Atem anhielt, unterschied er vom
neuem dieses leise und bebende Weinen! höre,
wie unsagbar fein es klang, zerspringender Kri-
stall —; wie hatte er doch nur gesagt, der Auf-
seher: daß sie auf den Kirchhöfen der ganzen
Weh zu allen Zeiten mindestens eine hätten, eine
von diesen Jammernden und Schwarzgekleideten,
die die schwere, duftübersättigte Atmosphäre er-
zittern machten! Ach, war das nicht die Einheits»
melodie des Lebens und des Todes selber, war
es nicht der Gesang von der beständigen Wonne
und Qual dieser Erde selbst, war es nicht das
süße und ewige Weinen der Menschenseele —
ihre Sehnsucht, ihr Hoffen und ihr Schmerz zu-
sammengefaßt! Ja, war die da hinten nicht die
unvergängliche, die funge und uralte Kunst in
eigner Person — diese schmächtige Frau, die mit
einem heftigeren Bewußtsein litt, die mit einem
unendlich größeren Begehren vermißte und darum
wohl auch ehemals mit tausendfach heißerer Lust
genossen hatte — als alles und alle, die sie um-
gaben!? Sie, die in der Grenzenlosigkeit ihrer
Klage all dem Stummen die Stimme und dem
Schweigenden die Sprache zurückgab! . . .

Noch eine Sekunde stand er da, den Nacken
weit hintenüber gebeugt, das Ohr hellhörig zit-
ternd, das Herz in einem tiefen und wortlosen
Frieden schwellend.

Und da kam es ihm allmählich so vor, als hätte
dieser spröde, singende Schrei aus jener Men-
schenkehle wirklich vermocht, all die andern un-
zähligen Stimmen überall ringsumher zu wecken!

Dicht an seiner Wange vorüber strich eilig ein
unsichtbar kleines Insekt, in seiner Hast genau
denselben Ton hervorsummend, der von da drü-
ben her kam! und da, aus dem spitzen, wippenden
Laub der Hängebirken, von Myriaden diminutiver
Wesen bevölkert, fuhr schwirrend dieselbe Me-
lodie hervor; aus dem Mückenschwarm, der sur-
rend vor ihm sank und aufstieg; und dort hinten
und hoch oben — zu allen Seiten, ein von Mil-
liarden intonierter Chor, die Natur selbst, die zit-
ternd ihr Grauen und ihr Glück hinausflüsterte,
mein Gott, kleine Annie, ach mein Lieb, nie werde
ich dich Wiedersehn! . . .

Mit einem Ruck hob er beide Hände vor sein
Gesicht, ließ sie gleich wieder schlaff fallen, plötz-
lich totmiide an allen Gliedern. Tat darauf un-
willkürlich einen oder zwei Schritte vor, blieb
wieder stehen — schnappte nach Luft. Und fühlte
auf einmal die ganze, träge Atmosphäre hier drin-
nen — die unbewegte und zu heiße Luft, die Ein-
samkeit nach allen Seiten, den stinkenden Blumen-
hauch, die Nähe aller der Toten —- wie eine er-
stickende Last in seiner Brust, wie eine unerträg-
liche Bürde auf seinen Schultern. Er starrte
stumpf vor sich zur Erde, auf einmal in sämt-
lichen Fibern erfüllt von einem einzigen dumpfen
und keuchenden Verlangen, von einer blei-
schweren, erdrückenden Sehnsucht, allen Wider-
stand aufzugeben und sich auf der Stelle in die
Knie niederdrücken zu lassen! mit einem Stöhnen
flach umzusinken, beide Arme nach der Seite aus-
zubreiten, so weit sie reichten — mit dem ganzen
Körper von oben bis unten, von außen bis ins
Innerste hinein zu ruhen! die Kühle des Kieses und
seine Feuchtigkeit an den Handflächen und der
Wange zu fühlen, die herbe Kälte des Erdgeruches
in beiden Nasenlöchern und das Prickeln der klei-
nen spitzen Steine nahe an seinen Mundwinkeln
zu spüren! Ja, ja, unbeweglich und befreit dort
hegen zu bleiben, plötzlich den Erdboden sich
unter der Brust wogen und wölben zu fühlen, sich
einen Augenblick darüber zu verwundern und
dann auf einmal zu wissen, daß man weinte! daß
man lautlos schluchzte, ohne Zorn. ohne Trotz —:

mid ein für allemal! Dal maa klagte und jammerte,
endlose Tränen vergoß, mit allen Poren und. mit
allen Nerven weinte und weinte wie ein Kind —
bis das alles restlos verschwunden war, bis es
ganz Nacht ringsumher überall geworden, bis alles
stumm und kohlschwarz und vorbei war — und
nie wieder erwachen würde! . . .

Er erhob sein Antlitz mit einem Ruck, mit einem
Rlötzlicben und eiskalten Gefühl, belauert zu seih,

Mit gerunzelter Stirn starrte er um. sich

Wo?

Wer da?!

Ist hier jemand, so antworte er! . . .

Er trat einen Schritt vor, eitlen Sprung — auf
einmal mit siedendem Blut, die Faust bis zum
Bersten um seinen Stock geballt —«• in die Finster-
nis nach rechts und links hlnausstarreftd.

Nein.

War da niemand?

War da gar niemand?? . . .

Alle seine Muskeln erschlafften jäh. Er lachte
kurz und beschämt. Sah abermals mit blitzenden
Augen um sich. Fühlte auf einmal einen unsag-
baren Ekel über alles —: Ja, ja, Ekel, da war
das Wort! ach, es stieg schal und stickig durch
seine Brust auf, es klemmte ihm rauh in der Kehle,
es machte alle seiner Nerven kalt und gekehrt und
flach! Ekel — vor allem über diesen gar zu
schwindelerregenden, süßen Geruch überall, ein
Gestank wie von Hetären, der vergiftende Atem-
h'auch der unaufhörlichen Auflösung, der schlei-
migen Fäulnis selber!

Er lachte wieder mit rätselhaftem Schmerz
über den Gedanken selbst, den er hier gedacht
hatte — und zu gleicher Zeit, ohne es zu wollen,
dies Gefühl des Abscheus weiter und weiter ver-
folgend —;

Ja!

Hahaha!

Pfui über das Ganze, von Anfang bis zu Ende!

Pfui, hauptsächlich über sich selbst — über
ihn, der da hinten gestanden und einen Wildfrem-
den gierig danach ausgefragt hatte . . . was wohl
über seine Frau gesagt wurde — und sich er-
leichtert, dankbar gefühlt hatte, weil das Richtige
nicht genannt wurde! Haha, war es mit andern
Worten, um so weit zu gelangen — daß er in die-
sen zwei grenzenlosen Jahren, die vergangen
waren seit . . . seit jener Nacht des Entsetzens,
Tag für Tag und Minute für Minute, vor einem
jeden verborgen, in dem allerinnersten Grund sei-
nes Wesens, alles, was er fühlte, begraben hatte!
war das der Grund, weswegen er sich gezwungen
hatte, zu decken und zu verstecken — in dem Maße,
daß nicht einmal seine nächsten Angehörigen ahn-
ten, wie wurzeltief, wie allseitig, wie urgründig er
durch diesen Verlust getroffen war . . . und durch
die Art und Weise, diese gräßliche, diese un-
menschliche Art und Weise, in der ihm dieser Ver-
lust zugefügt worden war!?!

Er lachte von neuem, bebte an allen Nerven,
die Zähne klapperten aufeinander, er fingerte son-
derbar mit der linken Hand zitternd über seinen
Nacken hin, das Ohr betäubt von leisen, pochen-
den Geräuschen . . und gleich darauf erinnerte er
sich plötzlich der Frau, die da hinten weinte.

Einen Augenblick erhob er das Gesicht, es ver-
zerrend, streckte beide Arme mit ausgespreizten
Fingern aus wie in namenlosem Ekel —:

Ja, natürlich!

Selbstverständlich auch Sie!

Hahaha, sie, des Kirchhofs festbestallte Leier-
kastenmusik, die vollbusige Schreierin des Aber-
glaubens und der Unwissenheit, die dort mit der
Stirn gegen ein Mamorrellef stand, Gott und jeder-
mann laut ihre unkeusche Begierde entgegenjam-

meriwl, die a« eine« blutnenüberhäuftea. und stin-
kenden Kieshügel gerichtet war — ein Gegenstand
der Märchendichtung und des naßkaltes Mitleids
der Aufseher und Totengräber und Geistlichen,
ihrer aller von oben bis unten!

Gänz recht — und nicht nur hier allein, nein,
überall — hatte er vorhin ja gesägt —<: überall auf
der ganzen Welt standen da Frauen und Minner
auf dieselbe Weise! Welch einen Chor mußte ER
nkbt Tag und Nacht, das ganze Jahr hindurch, in
sämtlichen Zungen der Geographie hören — Er
dort oben hinter den ewigen Sternen, pfui, hun-
derttäusendmal pfui! Was war das abscheulicii,
was war das gemein, w'as war es roh und dumm
und Lüge und Geplapper alles zusammen —. von
einem Ende bis zum äußersten Punkte des andern!
Weg, nimm es von mir, mit Stumpf und Stiel, die
Lebenden und die Toten, die, die wfeinen und die,
die lachen! Laß mich gründlich frei sein, jetzt
kann Ich nicht mehr, ich selbst bin die gesamte
Summe von allem, was an Ekel existiert! . . .

Er zuckte auf einmal zusammen, umfangen von
dem Gefühl, laut geredet zu haben —;;

Ja!

Oder auch . . .

Nein, diesmal war es kein Irrtum, es kam wirk-
lich irgend jemand da hinten hinter ihm drein! . . .

Er steckte nervös die linke Hand in die Tasche
seiner Jacke, umfaßte lose den Griff des Stockes
mit der anderen und ging so mit gerunzelter Stirn
langsam vorwärts — um den Fremden, wer es
nun auch sein mochte, der sich schnell näherte,
vorübergehen zu lassen.

Gegen seinen Willen lauschte er ■währenddes
angespannt auf diese kurzen, schnellen Schritte —
erriet, daß es eine Dame sein müsse, eine ganz
junge Dame wahrscheinlich! Fühlte sich jäh dar-
über gereizt, daß er sich damit beschäftige!!
mochte, an dergleichen nichtssagende Dinge zu
denken. Entschloß sich schneller zuzuschreiten,
ärgerte sich darauf auch über diesen Entschluß —
und fuhr deswegen in demselben ruhigen Gang
von vorhin fort.

Er fühlte gleich darauf mit überempfindsamen
erregten Sinnen, daß sie jetzt schon ganz dicht
hinter ihm war.

Im selben Augenblick umwogte ihn ein eigen-
artiger, erfrischender, ein kühler, unzusammenge-
setzter und ein ganz klein wenig bitterer Geruch ..
der ihn an Sommerabende da draußen auf dem
Lande erinnerte, wenn er stundenlang durch das
trockene und feurige Aroma der Tannenwälder
oder durch den süßgewürzten prickelnden Duft der
Kleewiesen gewandert war —- und ein Windhauch
dann plötzlich vom Strande her, dessen dunkel-
blaue Linie in weiter Ferne schimmerte, herein-
brach und ihm den salzigen und feuchten Ge-
schmack des Meeres brachte in einer köstlichen
Essenz!

Noch eine Sekunde sog er in einem langen
Atemzug begehrlich diesen kühlen Wohlgeruch
ein, unsagbar wohltuend hier unter der stinkenden
Blumenfäulnis; fühlte dann, daß die Fremde in die-
sem Augenblick im Begriff sein mußte, von hinten
links an ihm vorüber zu gehen, drehte unwillkür-
lich den Kopf über seine Schulter, wich gleichzeitig
ein wenig zur Seite — hatte sie im nächsten Mo-
ment vor sich, sah halb unbewußt die schmächtige
und geschmeidige Rankheit ihres Rückens . . • und
wußte dann auf einmal unerklärlich, mit erschüt-
ternder Gewißheit: daß Sie es sein mußte! Da war
kein Zweifel, es konnte niemand anders sein, als die
von da drüben!

Ohne es selbst zu wissen, ging er auf einmal
langsamer hinter ihr drein, tat noch einige Schritte
vorwärts, blieb dann schließlich stehen — starrte in

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