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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 200/201 (Erstes Märzheft)
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Apollinaire, Guillaume: Alexander Archipenko
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Zech, Paul: Die Gruft von Valero
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0189

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Alexander Arehipenko

Schöpferische Kräfte sind es, die der Kunst
Archipenkos die Richtung geben. — Schon in den
ersten Kompositionen, die dieser junge russische
Bildhauer in Paris ausstellte, fanden sich Rich-
tungswechsel, plötzliche und doch zarte Wechsel,
die man, wenn Arehipenko weiter schreitet, wie
er bisher ging, Geschwindigkeitswechsel nennen
könnte (um der neuen, aus der Industrie geborenen
Sprache diesen Ausdruck zu entlehnen).

Arehipenko baut Wirklichkeiten. Seine Kunst
nähert sich mehr und mehr der absoluten Bild-
hauerei, die sich eines Tages mit der absoluten Ma-
lerei und der absoluten Architektur verschmelzen
soll um als reine Plastik zu erstehen, jenseits aller
Stilarten, jenseits aller Techniken und Hilfsmittel.

Arehipenko trägt in sich die Kräfte, die nötig
sind, um dieses Ziel der inneren plastischen Ein-
heit zu verwirklichen.

Die einzigen unter allen Künstlern, die diesem
Ziele ernsthaft zugestrebt haben, sind unsere neu-
eren Maler. Die Bildhauer haben nicht daran ge-
dacht, außer dem genialen Rüde vielleicht, der
der größte unter ihnen ist. Die anderen, Carpeaux,
Rodin, Schnegg, Despiau, gewahrten die gestal-
tende Kraft des Lichtes, befreiten die Formen,
ließen sie spielen und sich färben, unterwarfen sie
der sinnlichen Empfindsamkeit des Auges.

Nadelmann dagegen versuchte sich, wenn auch
nur schüchtern, in musikalischen Konstruk-
tionen, über Griechen und Ägypter hinaus. Er
versuchte, die Plastik wieder der Architektur zu
nähern (wissenschaftlicher Kubismus). So sind
die Pfade geöffnet für eine Kunst, die mit dem in-
neren plastischen Aufbau den hohen Reiz der
sinnlich schönen Oberfläche vereint.

Archipenkos kühne Konstruktionen verkünden
leise, aber fest das Unerhörte dieser neuen Kunst.

Farben und Lichter gleiten fließend über die
Mensch gewordenen Formen und scheinen sie zu
durchdringen. Die Wölbungen, die komplemen-
tären Formen, die Differenzierung der Flächen,
die Vertiefungen und Erhebungen, die sich nie
scharf begrenzen, wachsen zu einem lebendigen
Stein, dem ein leidenschaftlicher Meißelschlag
skulpturalen Ausdruck verleiht.

Man betrachte diese Salome, ihre begeh-
renden Wünsche fast grausam erhellt, diese Ba-
dende, die immer wechselnd, immer neu er-
scheint, diese Ruhe oder die Sitzende Frau,
die ein Stück Leben verkündet, ohne zu berichten.

Die Skulptur hat sich bisher fast immer darauf
beschränkt, Melodie zu sein. In deb Kunst Ar-
chipenkos, von der hier die ersten Akkorde er-
klingen, scheint sie zur großen Harmonie zu wach-
sen. Die Kraft des Schaffenden gestaltet Werk
und Mittel und Ausdruck; was ihn treibt und was
seine Arbeiten aussagen, ist die hoch begabte, zart
organisierte Persönlichkeit des Künstlers, was er
sucht, ist Realismus. Mit Leidenschaft arbeitet
dieser an der Gestaltung seines Ideals: „Der

Wirklichkeit“.

Gulllautne Apollinaire

Die Gruft von Valero

Paul Zech

I

Aus dem rauchschwarzen Himmel, der sich
wie ein massiver Sack über dem Grubendorf
ballte, regneten die rotgespritzten Funken der
Kokerei unaufhörlich. Immer, wenn die Nacht-
schicht sich zur Einfahrt rüstete. Man ging wie

über einen Feuerwerksplatz. Die kleinen Häuser
an der Straße warfen große braunblaue Vierecke
auf den geölten Weg. Das Geräusch der Seil-
tiirme flog gewitternd über die krausen Netze des
Rauches. Rußschwärme jagten wirbelnd durch-
einander. Töne von menschlichen Stimmen, ein
zusammengeworfenes, dumpfes, melodisches Sum-
men wie von Insekten, zerrissen in der Orgie der
materiellen Brandung. Klangen nur in Pausen nach
wie gedunsene Halle eines Echos. Waren Endun-
gen eines Spieles, das Seele verlor.

Im Schein der wattigen Lampenhelle, die
kaum die Giebel berührte, wanderten die Men-
schen krumm, wie vergreist. Sie schienen nicht
mehr wissen zu wollen und träumten ihre Wege
hinab. Erde zitterte ihren Hälsen zu und mühte
sich, die eckigen, durchgearbeiteten Schädel zu
halten. In den Köpfen wären allein nur Kerne noch
wach. Alles, was diese Kerne umhüllte, war ein
trunkener Mechanismus. Eine Welle regelte ihn.
Ein Magnetismus, der von einer außerordentlich
organisierten Zentrale herkam: zu regieren und zu
profanieren.

Eine Schachtanlage war diese Zentrale. Hatte
eiserne Tore wie Drachenmäuler, mit spitzen Eisen
bezackt und bezähnt. Und eins dieser Tore gähnte
gefräßig und zog die Menschen, die wären, mühe-
los hinein.

Lange Arme ruderten. Gesichter sprangen weiß
vor." Knochige Hände griffen Zahlen an. Gewirr
von Lampen flog auf. Signalglocken überschrien
den Steiger, der vielerlei Namen gleichgültig auf-
rief. Und die Namen bejahten halbgemurmelt die
Aufrüfe.

Dann und wann schnellte eine Hand empor wie:
wenn Kinder Schulweisheiten auskramen. Eine
Hand, die kühle Gefühle spürte. Wäre ein Wollen
darüber gelegen, hätte sie zugestoßen. Spitz und
blank. Und wäre warm geworden in Röte.

Die Menschen wanderten in die Kaue. Das war
ein kalkweißer Saal zur ebenen Erde. Lange
Steintröge mit fließendem Wasser flankierten die
Wände. Von der Decke baumelte in gedrehten
Wirbeln das verschwärzte Blau der Arbeitsan-
züge.

Man zog sich um. Die Luft stank von Schweiß
und verschwitzter Unterkleidung. Dann standen
Akte: blank wie Bronzen von Meunier. Tatzen-
breite Klauen klatschten zum Spaß auf muskelöse
Schultern. Krampfadern standen geschwollen auf
Fleischklumpen der Oberarme und Unterschenkel.
Geschlechtliches lag dumpfverkrochen in den
Höhlen. Nur das gewohnte Werfen mit Zoten, das
gering und öd automatenhaft war, täuschte Spring-
lebendigkeit vor.

Die Glocke ratterte wieder. Und ein Blöken
schwoll wie Gedränge von Schaffen im engen
Stall. Hitzige Geräusche aus den Kehlen hatten
aber kein Medium: zu durchdringen. Die Klänge,
die entsproßten, zehrten von Erinnerungen an müde
Frauen. An braun und blonde Kinder. An Mäd-
chen in Birkenwäldchen. An Fusel und Karten-
spiel.

Dann deckte Geröll steinerner Stunden vom
Berge des Arbeitszwanges das Feld der niederen
Traumfreuden zu.

Das Vorspiel begann.

Tag für Tag in gleichem Tempo. Aber nie war
Einer, der sich versuchte. Gott versuchte und
Satanas fluchte. Man erblickte nur Teile eines
Eigenen. Nie aber die Gänze der harten Ge-
samtheit.

II

Unter den Zwanzig, die den Förderkorb betra-
ten, als er schon murrend in den Gelenken knackte,
waren zwei bemerkenswert. Piet der Vollhauer

und Jonsen, sein Gehilfe. Sie waren Wühler airf
derselben Sohle.

Piet begrüßte den Jonsen zuerst. Ein kurzes,
heftiges Anziehen durch die Nase ging seinem
Gruß vorauf. Und der Fall seiner Worte gluckste
wie das Gerinsel einer Regentraufe.

„Wir werden heute den neuen Flöz anpacken.
Du weißt ja, den am Wetterschacht. Saure Arbeit
wird’s geben!“

Dabei stieß er seine Fäuste klumpig empor wie
fluchend. Und sein Gesicht schrumpfte aus dem
Ungewissen des Lichtes tierisch ins Besessene.

Jonsen nickte. Nickte nur und sagte rein nichts.
Vielleicht war es ein Vorgefühl tiefsten Schreckes.
Zudem krankte er an der Formulierung eines Prin-
zipes zu höherem Lebenszweck. Man sagte unten
im Dorf, daß er nur Studien halber sich ins Joch
gespannt hatte.

Polternd schüttelte der Korb die Hauer auf den
Gang. Sie rannen auseinander wie gewordene
Brut aus Schalen. Immer in Trupps zu zwein und
drein.

Piet und Jonsen hatten von dem Steinriff, wo
die Knappen in gesonderten Höhlen Hacken und
Schaufeln rührten, noch eine viertelstündige Wan-
derung zu machen. Das gewohnte dumpfe Surren
der Kippwagen, das Kreischen der Sauerstoffge-
bläse und alle Geräusche von Schlägel und Bohr-
eisen hinderten nicht, daß den Wallern die Minuten
durch den stockdunklen Gang lautlos erschienen,
wie von einer bis zur letzten Endung gespannten
Feder gehalten.

Jonsen hob die Lampe. Ein winziger blauer
Kranz umschwirrte zitternd den roten Lichtkegel.

Piet schnüffelte lange und verdrehte die Augen
wie unter der Nähe von etwas bitter Saurem.

„Hier stimmt es nicht mit der Luft. Die Be-
rieselung klappt ja. Aber die Enge. Spürst Du das
denn nicht?“

Jonsen verneinte. Aber mit offenen Augen
horchte er herum. Endlich, leise . . . aus Tiefen
— rauschten Dinge. Aber er war nicht aufgeklärt,
sie zu deuten. Sein Instinkt war hier einfach ab-
geschraubt.

Da ging Piet voran. Der gekrümmte Rücken,
dessen Muskulatur bei jedem Schritt aufschwoll,
sowie die eckigen Knüllen der Oberarme scharr-
ten an der Verzimmerung. Feuchte triefte dünn
von den Bohlen herab. Der schwarze Schlamm
lag zäh wie ein pilziger Brotteig auf dem Boden
und sog das Schuhzeug an: schöner Teppich für
Besoffene. Ins Gesicht Getropftes schmeckte sauer
und ließ den Speichel auf der Zunge gerinnen. Es
ließ sich auch nicht vernichten. Klebte sich an die
Kleider und wurde gewohnt.

Piet und Jonsen standen am Ende der Sohle.
Der Fels, das reine, schwarzglänzende Fleisch der
Erde hob sich aus dem überschwemmten Bett der
Sengen.

An einen Pfosten, dem lange Schmarotzer der
Fäule wie Strähnen eines verwilderten Bartes her-
abhingen, klemmten sie die Lampen, Piet tat noch
den grünen Kittel hinzu.

Eine torartige Verzimmerung schloß den Gang
ab. Dahinter lag der Schlagwetterherd: die Gruft.
Man war gewohnt, nie von dieser Leichenkammer
zu sprechen, ohne sich zu bekreuzen. Vielleicht
waren noch Scherben darin von Toten, die man
vermißt hatte, damals vor zehn Jahren, und die
man nie wiederfinden wird. Achtzig waren einge-
fahren und nur siebenundsechzig hatte man aus-
gegraben. Dieses befahl Furcht.

Und Jonsen fürchtete sich. Sein Blut sah. Und
sein Gehirn fühlte so, wie man von einer Ursache
geregt, fühlen kann. Aber er konnte es sich nicht
erklären und das Trübe des Geahnten nicht fil-
tern. Darum meinte er:

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