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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 4.1913-1914

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Nummer 202/203 (Zweites Märzheft)
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Kohl, Aage von: Der Weg durch die Nacht, [6]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.27574#0199

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„Nein!“ — sagte er, beständig seine eigene
Stimme gleichsam aus meilenweiter Ferne hörend,
plötzlich kälteschaudernd —:

„Ich kann Ihnen ganz und gar nicht recht geben
in dem was Sie da sagen!

Nicht im allergeringsten —:

Denn es ist mir noch niemals geglückt, irgend-
eine menschliche Fähigkeit, Neigung, Lust, Bedürf-
nis, Sehnsucht oder Begierde zu finden — die ich
nicht bei einem jeden von uns allen in höherem
©der geringerem Grade wieder gefunden hätte!
Keine Größe, sie mag in unseren Augen noch so
erhaben oder ehrfurchteinflößend sein — die nicht
schließlich doch nur aus einer ganz einfachen,
wenn auch zuweiäen schwindelnd starken Stei-
gerung vollkommen allgemeiner Kräfte bestand!
Keine Niedrigkeit, Schlechtigkeit, Roheit, nichts von
dem sogenannten Tierischen — das etwas anderes
gewesen wäre, als nur eine einseitige, (für uns
andere allerdings höchst unangenehme und des-
wegen nur mit äußerster Mühe wiedererkennbare!),
gesteigerte Entwicklung von Möglichkeiten und
Tendenzen, die auch wir anderen alle besaßen!
Kurz und klar —: Es gibt meiner Anschauung nach
nichts Menschliches — das nicht gemeinmenschlich
ist! Und ich begreife, offen gestanden, ganz und
gar nicht, was man sonst mit dem Begriff iVlensch
anfangen sollte! —

Und ebensowenig, das was Sie vor-

hin berührten,“ — fuhr er fort; auf einmal
unfaßlich für ihn selbst, seine Stimme ein wenig
erhebend, laut und knapp redend, mit leicht ge-
runzelten Brauen, ohne bisher noch verstehen zu
können, warum er plötzlich anfing, sich über alle
diese Dinge auszusprechen — „auch nicht
mit . . . Karl Mumme, kann ich Ihnen recht geben!

Sie können natürlich sagen, daß Sie sich nichts
daraus machen, meine Ansicht zu hören; daß das
die Ueberzeugung eines Laien, eines Dichters —
•der wie Sie selbst vor einem Nu sagten, die erd-
ferne Anschauung~Ȋines Idealisten ist!

Aber Vtenug! \

Die Hauptsache ist in diesem Augenblick, ganz
gleichgültig, welchen Wert Sie meinen Worten
sonst beimessen wollen —: daß ich Ihnen auf das
Bestimmteste in Ihrer Annahme widersprechen
muß, daß Karl Mumme meine Frau getötet haben
sollte.

Haben Sie es jetzt klar und deutlich gehört?

Ich wiederhole es der Sicherheit halber noch
einmal mit unzweideutigen Worten:

Nein, tausendmal nein, es ist nicht, es war nicht,
es ist nie Karl Mumme gewesen, der Annie ermor-
dete!“ — er schwieg, atemlos, mit Gewaltsamkeit
die Augen des andern anstarrend, mit aller Macht
die Knöchel der linken Hand auf die Tischplatte
»iederpressend.

„Karl Mumme . . . nicht gemordet?!

Du allmächtiger Gott, Mensch, was sagen
Sie . . — rief von Geer, indem er einen Schritt

zurücktrat, verwirrt -— mit ausgestreckter Hand.

Morton lachte kurz und bissig; zu heftig und
unerwartet umfangen von unerklärlichen, angst-
gebärenden Gefühlen, die immer gewaltiger ihre
Stimme tief drinnen in ihm erhoben — um in diesem
Augenblick auf die Form zu achten —:

„Unsinn,“ — unterbrach er den anderen — „ge-
wiß nicht. Sie mißverstehen mich schon wieder.
Völlig!

Wenn ich sage, daß nicht Karl Mumme meine
Frau getötet hat,“ — fuhr er fort, auf einmal in
einem einzigen, blitzschnellen Nu gleichsam
ahnend, was er im innersten Innern mit seinen
Worten zu sagen beabsichtigte —: „dann meine ich
damit keineswegs, daß es nicht seine Hand war,
'die das Messer in jener Nacht führte! Und ich

denke ebensowenig daran, inwiefern Sie oder die
'Polizei möglicherweise eine juristische Ungerech-
tigkeit begangen haben können, indem Sie-Jhren
Verdacht auf diesen Mann gelenkt haben!

Nein!

Keineswegs!

Aber ich meine —: Wie in aller Welt können
Sie verlangen, daß ich irgendeinen Groll gegen
dieses arme Wrack empfinden soll! Daß ich auch
nur den allergeringsten Trost darin finden soll, zu
wissen, daß sich die Ursächlichkeitskette auch
rings um ihn geschlossen hat —• daß auch er weder
mehr noch weniger ist als ein ganz gewöhnlicher
Mensch, der genau so wie Sie und ich, wie ein
jeder von uns allen, unerbittlich und Schritt für
Schritt gehorsam die Wege wandeln muß, die die
Art unseres Wesens uns vorschreibt — gleich-
gültig, ob sie uns zum Schaffott oder zum Thron
führen!

Was ich meine,“ — wiederholte er, erhob plötz-
lich die rechte Faust hartgeballt in die Luft, nun
vollkommen klar darüber, daß das, was er errei-
chen wollte, indem er alle diese, ihm selbst unend-
lich wohlbekannten Argumente noch dazu im Bei-
sein dieses fremden Mannes wiederholte —: das
war ja eben eine heisere und wahnsinnige Stimme
von da aus dem allertiefsten Innern zum Schwei-
gen zu bringen! diese wilden und blutigen Schreie
zu übertäuben, die mit größerer und größerer
Leidenschaft zu seinem Bewußtsein emporstiegen,
ihr haßerfülltes Rachebrüllen verstummen zu
machen —:

„Was ich meine, das ist Folgendes —*:

Jawohl, nennen wir diesen Mann einen Lust-
mörder! Jagen und fangen wir ihn mit Hilfe der
Polizei, reißen wir ihm mit einem Stock sein Auge
aus, sperren wir ihn Tag und Nacht in einen ein-
samen Raum, üben wir das gegen ihn aus, was
Sie vorhin eine moralische Folter nannten, lassen
Sie uns das Todesurteil über ihn aussprechen —
und vollziehen wir es schließlich auch, nach einer
passend langen Marterpause, für das Gräßliche,
was er getan hat —: jawohl, aber wer unter uns
wagt es dann zu leugnen, daß jenes Gefühl der
Empörung, das uns veranlaßte, dies alles zu tun . .
im tiefsten Innern genau dieselbe brennende und
grausame Lust ist, die er empfand — in dem
Augenblick, als er mordete!

Ach Gott,“ — fuhr er fort, von neuem mit ver-
änderter Stimme, fieberheiß, so schnell, daß er
über seine Worte strauchelte —:

„Ach Gott, putzen wir uns selber nur nicht so
kindisch heraus — daß wir schließlich rein ver-
gessen, w a s es ist, daß sich unverändert unter all
dem Staat verbirgt! Lassen wir uns nicht ganz
und gar von den Leuten hinters Licht führen, die
sich damit brüsten, wir hätten uns heutzutage
schon längst mit Abscheu von dem jus talionis, von
dem Gedanken an das Recht der Wiedervergel-
tung abgewendet!

Behalten wir unverwandt vor Augen —: so
lange es ein Todesurteil gibt, so lange noch das
Wort Strafe über unsere Lippen kommen, in un-
serem Herzen wohnen darf — so lange brennt in
uns allen unauslöschlich, rotglühend, genau die-
selbe wilde und gierige Zerstörungslust — in
vollem Maße der Tiere würdig, gegen die sie ge-
richtet ist! Erinnern wir uns beständig mit Dank-
barkeit jenes edlen Senators da unten in Paris, der
vor ein paar Jahren in einer Diskussion in der
Kammer über die Abschaffung der Todesstrafe
als entscheidendes Argument ausrief: Lassen Sie
die Herren Mörder den Anfang machen . . . und
damit, ohne daß er selbst es ahnte, und ohne daß
die jubelnden und Beifall klatschenden Zuhörer es
begriffen, so deutlich wie es nur möglich war, das

Gesetz und die Verbrecher auf dasselbe Niveau;
stellte: zwei ebenbürtige, kriegführende Mächte!“

— Er machte eine langsame Bewegung mit der
Hand, lachte kurz auf, sank erschöpft in seinen
Stuhl zurück, konnte sich plötzlich nicht mehr er-
innern, warum er dies alles mit einem so brennen-
den Eifer gesagt hatte -— war jetzt nur von dem
Gedanken erfüllt, bei dem andern diesen ganzen
Ausbruch auswischen, wegglätten, wegerklären
zu müssen.

von Geer sah indessen voll Ernst vor sich hin*
zur Erleichterung für Morton offenbar das alles
nur ausschließlich prinzipiell betrachtend —:

„Mit anderen Worten,“ — sagte der Professor
endlich, indem er aufsah und den Kopf schüttelte

— „Sie leugnen vollkommen das Vorhandensein
unseres freien Willens, Sie sind schlecht und recht
Determinist!

Nun ja, ich sehe selbstredend ein, daß die Sätze,
die ich vorhin aussprach — über mein in-
stinktives, möglicherweise geradezu atavistisches
Empfinden davon, daß die Verbrecher, über deren
Wesen wir uns ergingen, eine ganz spezielle Art
des Menschengeschlechtes sein müssen — daß sie,
bis zu einem gewissen Grade, als Beweis für eine
solche Betrachtung dienen können! Und insofern
hebe ich noch einmal hervor, daß es nur ein
Gefühls- und keineswegs ein Verstandesmoment
war, das mich veranlaßte, so zu reden!

Denn, du lieber Himmel, Mensch, können Sie
denn nicht sehen, wohin es führen würde, wenn
eine Lebensanschauung, wie Sie sie eben hier aus-
gesprochen haben, der großen Menge gepredigt
würde!

Welche endlosen Strecken würde das nicht er-
zeugen! In Blut, lieber Freund, in Schandtaten
und Blut bis zu unseren Knöcheln hinauf, würden
wir Tag für Tag waten müssen!

Denn das ist ja die einzige Fessel, die wir ihnen
allen gegenüber besitzen — und auch uns selbst
gegenüber —: unser unaufhörliches, unser immer
mehr durchgeführtes Festhalten daran, daß wir,
ohne Ausnahme, unter Verantwortung leben! Daß
in demselben Augenblick, wo wir uns entschlie-
ßen, dies oder jenes zu tun — es unser eigener
freier Wille ist, der die Wahl getroffen hat (wer
sonst???)! Unser freier Wille, der — natürlich
unter gehöriger Rücksichtnahme auf das Milieu, in
dem wir wirken — uns zur Belohnung berechtigt
oder uns der Strafe anheimfallen läßt, je nachdem,
ob das, was wir taten, den andern Nutzen brachte
oder ihnen nur Leid zufügte!“

Morton zuckte erschöpft mit den Achseln, ohne
zu antworten; er war jetzt viel zu müde gewor-
den, hatte außerdem längst all diesen Unsinn ver-
gessen, über Dingen, die größere Bedeutung hatten.

„Und die Kunst,“ — fügte von Geer hinzu, indem
er seine beiden Arme ausbreitete — „die Kunst!
Die, die Sie — das weiß ja ich wie so viele andere,
aus Ihren Büchern — die Kunst, die Sie über alles
lieben, höher als alles andere — tiefer als alles
andere!

Sagen Sie mir —:

Was in aller Welt wollen Sie dann mit der
Kunst, wenn alles schon im voraus bestimmt da-
liegt! Wenn nicht ein einziger von uns irgend
etwas anderes tun kann, als wozu unser Fleisch
und Blut und unsere Nerven uns prädestinieren —
wenn wir nicht einmal ein einziges kleines Körn-
chen von selbständigem Wollen besitzen?!“

Morton lachte ganz wenig.

Er fühlte sich zum Umsinken matt in allen
Gliedern.

Bereute bitter, daß er — noch dazu in direktem
Widerspruch zu seiner Gewohnheit (ja, was ging
überhaupt mit ihm vor, heute??) — diese Worte

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