Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

DOI Artikel:
Grohmann, Will: Lasar Segall
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0127

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
verfeinerten Psychologismus und eine ganz kurze Periode rhythmischer Auf-
fassungen zu einer Gestaltung, die nur dem Leuten Daseinsrechi gibt. Die Ur-
sprungs- und Menschen-Beziehungen fehlen dabei nie, und bevor Segall den lebten
Schritt zu seinen Abstraktionen tut, arbeitet er sich noch einmal durch alle
Totalität der Lebensnahe hindurch, die in dieser Periode pein- und qualvoll, fast
gefühllos war, denn jedes Sentiment sollte endlich überwunden werden zu Gunsten
höchster Reinheit und Formvollkommenheit. Es ist erstaunlich, wie beladen mit
Energie und edlem Ausdruck die wenigen Striche in den Blättern zur »Sanften«
von Dostojewski sind. Die Vereinfachung streicht alles nur irgend Entbehrliche.
Es bleiben wenige menschliche Umrißlinien, die in ihrer Kargheit und äußerlichen
Armut an sich schon ein Spiegel dieses schmerzvollen Vorganges sind. Dieselbe
überlegene Beschränkung in der Farbe. Es gibt nie eine Stelle bei Segall, wo die
Farbe sich vordrängt, um selbst etwas zu sein. Mit strengster Disziplin ist sie
verwendet, aus der Idee, dem Antrieb des Bildes heraus; immer nur als Mittel
der Wahrheit, nicht der Schönheit; eine asketische Strenge auch hierin.
Was an Segall befremdet, ist die Deformation seiner Gestalten, die fehlende
Rücksicht auf die Proportion. Wozu die Größe der Köpfe? Aber aüch solche
Mensdien, die sich ablehnend verhalten, geben zu, daß gerade in dieser Eigen-
willigkeit etwas gesagt wird, was noch nie gesagt war. Bei den »Ewigen Wan-
derern« wirken die vier Köpfe wie Kometen, wie Gestirne. Eine überirdische
Größe, eine Berührung mit dem Unendlichen manifestiert sich. Ich denke an eine
Legende aus dem Chassidimkreis. Dort heißt es: „DerMensdi ist eine Leiter, auf-
gepflanzt auf der Erde und ihr Haupt reicht in den Himmel und alle seine Ge-
bärden und Geschäfte und Leiden ziehen Spuren in der oberen Welt.“ Das ist
es wohl, was ihn so gestalten läßt. Vielleicht kennt er die Legenden der Chassi-
dim garnicht. Aber die »Ewigen Wanderer« haben etwas vom Aufstieg des Un-
endlichen von Stufe zu Stufe, so daß der Himmel von heute die Erde von morgen
wird. Es gibt auf diesem Bilde kein Diesseits und kein Jenseits. Die Frau
rechts löst sich in das Licht des Mondes auf, das zu den Füßen angedeutet ist,
sie weiß wohl kaum darum. Frauen sind bei ihm nie bewußt, aber der Alte mit dem
weißen Bart, der wie ein Spruchband wirkt (fast vermutet man Lettern darauf), hat
die Einsicht einer weisen Abgeklärtheit. Ein Kind berührt hilflos die karge Erde, so,
als sollte es im nächsten Augenblick weggeblasen werden. Ein Zusammenhang von
Mann, Weib und Kind fehlt in dieser Zeit noch. Eine Entrücktheit von der eige-
nen Inbrunst liegt über den Gestalten, als ob es Raum und Zeit kaum noch für
sie gäbe, als ob die Dinge dieser Welt nicht mehr für sie existierten. Das ver-
mitteln diese so beschaffenen Formen. Um dies zu sagen, fühlte sich Segall ge-
zwungen, die Form so zu verändern. Die Bilder, die auf derselben Ebene entstanden
wie die »Ewigen Wanderer«, haben alle etwas von dieser Losgelöstheit vom Leben:
Nur in der Beschaffenheit und Gestaltung seiner Menschen lebt dieses Dasein.


109
 
Annotationen