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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0491

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nahe und mächtig gesehenen Köpfen, die mehr dem
bloßen Gefühlsklang dient. Unnötig zu sagen, daß
audi jene kleinfigurige nicht literarische Anhaltspunkte
liefert; zwar nicht so übersehbar und unmittelbar,
doch nicht minder erschütternd wirkt. Eine Versamm-
lung von »Ideologen«, ein Barrikadenkampf der
»Leuten«, ein Tanzcafe, das »Martyrium« einer von
der Soldateska Gemeuchelten — diese erfordern ihrer
Natur nach räumliche Ausweitung, ausführliche Schil-
derung des Gesdiehens; während die »Familie« den
Widerklang der Zeitereignisse in drei Köpfen spiegeln
kann und ähnlidi »Hunger« in ein paar um den
Tisdi Sißenden das Niederdrückende der Not, »Nach-
hauseweg« die Gegenüberstellung des Gesunden und
des Verstümmelten und das furditbare Erschrecken
vor dem eigenen Anteil an diesem Jammer: eines
der erschütterndsten Blätter, und fast nur aus zwei
riesenhaften und nah gerückten Köpfen bestehend.
Um aber das Geheimnis der ungemeinen Wirkung in
ihnen anzudeuten, mu| vor allem auf des Widerspiel
realistisch anmutender Details und der übernatürlidien
Raumbildung hingewiesen werden. Unter den Ra-
dierungen waren besonders Blätter wie Irrenhaus und
Gähnen bahnbrechend: die scheinbare und so wohlerwo-
gene Willkür im Maßstab der Einzelheiten schuf hier
schon die Bereitschaft, Dinge und Menschen unwirklich
und als Gespenster zu sehen. Ungemein verstärkt, fast
möchte man sagen, systematisiert ist diese Willkür
als Prinzip in die Raumschöpfung der Lithographien
bezogen. Es fehlt nicht an Raumtiefen: aber da die
vordersten Gegenstände ganz nahe gesehen und die
Proportion aller vollkommen untereinander verschoben
ist, auch auf die vorderste Raumschicht keine klar
deutbare Tiefe folgt, so treiben alle Raumvorstellungen
wie steuerlos durcheinander, und die Entwicklung in
die Tiefe hinein wie in die Breite folgt nicht mit der
Logik des Gewohnten, sondern sprunghaft, ungleichartig
und mit einer sehr unheimlichen Geseßwidrigkeit. (Sofern
man Geseß mit Natur gleichstellen will.) Das Geseß
dieser Raumtektonik aber heißt Bewegung: um der
Bewegung willen sind die Dinge untereinander verworren
und verknäult. Aber nicht die schön vollendende
Bewegung einer sittlichen Weltordnung, sondern die
grauenerregenden Zuckungen eines Weltunterganges
sind gemeint; die Krämpfe einer chaotischen Selbsf-
vernichfung und die blißschnellen Überraschungen einer
überreizten Vorstellung. Schlimme Dinge vollziehen
sidr aber nur im ungeregelten Ablauf unserer Raum-
vorstellung; mit der Korrektheit der Perspektive läßt
sich nicht satanischen Erscheinungen beikommen. Mit
einer wahrhaft diabolischen Geste wird darum auch
das ästhetische „Geseß“ der vorderen Raumbegrenzung
gesprengt und mit deutender Hand, vorüberjagenden

Hundeköpfen, Laternenpfählen usw. über den Bildranci
hinausgegriffen in den Sdiein der Wirklidikeit. Vor
dem gestrengen Riditerstuhle einer Formalästhetik
wären soldie Übergriffe schlechthin zur Kassation zu
verurteilen: ein Greuel allen klassisch geschulten Augen.
Wir wissen aber, daß zu allen Zeiten einer erregten
und barock empfindenden Umformung der Natur diese
Verstöße nicht etwa erlaubt, sondern als normales
Bildungsgeseß sogar geboten waren. Ein Blatt wie
der »Nachhauseweg«, eine der gewaltigsten und tief-
sinnigsten Erfindungen Beckmanns, wäre gar nidit zu
denken ohne den übergroßen Hundekopf, der mit der
glühenden Gespensfigkeit des „Hundes von Baskerville“
vorn vorbeirasf und mit seiner dunklen Masse die
beiden Kontrastköpfe des Malers und des zerfeßten
Soldaten in ein schwindelerregendes Verhältnis zum
wirklichen und zum dargestellten Raum bringt. Das
methaphysische Wirken solcher Schwankungen läßt sich
gar nicht schildern; aber vor dem Blatte selbst packt
es mit einer ungemeinen Drastik.
So tritt die Linie selber vor der Macht der Raum-
symbolik an zweite Stelle zurück. Aber sie ist da
und umgrenzt mit derselben Suggestionskraft die Formen
wie den Raum. Sie bildet die sprunghafte Bewegung und
Rhythmik wie das peinvolle Einzelglied einer übermäßig
deutlichen Wirklidikeit. Hier liegt das Gegenwärtige,
das Unvermittelte der Schilderung beschlossen. Die
Unbarmherzigkeit spätgotisdrer Martyrien beruhte ja
zumeist auf demselben Mit- und Durcheinander krasser
Wirklichkeiten und Verzerrung des Ganzen. Nur ist
sie bei Beckmann nodi packender, nicht etwa nur, weil
wir hier Erlebnisse unserer Zeit gespiegelt sehen,
sondern vor allem deshalb, weil er die Kontrastmittel
bewußter verbindet. Es ist ein Irrtum zu glauben,
daß solche Brechung des Naturgegebenen nur „naiv“
vollzogen werden könne. Ganz ausgeschlossen, daß die
reine Linie des ägyptischen Reliefs oder die Willkür-
herrschaft der Barockformen der Traumtiefe eines
Kindergemütes entstiegen seien. Und Wolgemut oder
Meister Bertram „konnten“ freilich nur so, wie es
ihrer Zeit gegeben war; aber schon das Genie des
Konrad Wiß fällt aus diesem Rahmen heraus: wie,
wenn man das Problem als das einer persönlichen
Leistung faßte? Und Beckmann ganz einfach (und
sachlich) die größere Bildungskraff gegenüber gerade
jenen gotischen Handwerkskünstlern zubilligte? Es ist
Sache eines kunsthistorischen Zunft-Hochmutes, in
solchem Vergleiche Blasphemie zu sehen. Konrad Wiß
ragte über seine ehrbaren Zeitgenossen hinaus, daran
ist doch wohl nidit zu zweifeln, wie Beckmann über
unsere Krauskopf, Jäckel, ja schließlich auch Meidner
hinausragf, und nidit minder über Meister Bertram
und Wolgemut. Man möge sich klar machen, was

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