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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 2.1920/​1921

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Benz, Richard: Das Formproblem in der deutschen Dichtung
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https://doi.org/10.11588/diglit.41961#0740

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englischer Moderne. Jede dieser Beeinflussungen hat ihre eigene Ästhetik und Technik mit
sich geführt, und deren Komplex ist es, was heute noch als poetische Bildung erlernt werden
muß, um unserer, der deutschen, Dichtung, in ihrer Gesamtheit gerecht zu werden.
III.
Man kann die Ablenkung, welche die deutsche Dichtung durch fremde Einflüsse erfuhr,
hauptsächlich in zwei Erscheinungen finden. Die eine ist das Dichten in fremder Sprach*
form selbst, das heißt: Dichtung, soweit sie sich fremder Metren, Versformen, Gattungen
und Regeln bedient. Die andre ist das Dichten ohne Sprache, das heißt: Dichtung ohne
das sinnlich geformte Wort, die verstandesmäßigdogische Mitteilung sogenannter bloßer In*
halte, wirklicher oder psychischer Vorgänge, Gefühle, Gedanken und Probleme. Das eine
ist die Welt der Lyrik, der eigentlich erlernten und erarbeiteten Form; das andre die Welt
des Romans und des Dramas, die ungeformte Mitteilung von Ideen und Erlebnissen.
Das Mittelalter kennt nur die erste Art fremder Beeinflussung: die lateinisch*romanische
Poesie wirkte wesentlich nur auf die formale Gestaltung des Verses, und auch auf diese nur
vorübergehend — Minnesang und höfische Epik waren eine Episode und wirkten nicht
dauernd auf die gesamte Art des Volkes, sich dichterisch auszudrücken. In der neueren Zeit
gingen dann beide Arten fremder Poesie nebeneinander und in mannigfachen Mischarten
durcheinander. Opitz begründete eine der deutschen Sprache wesensfremde Metrik, die bis
heute nur die fremden Vorbilder, nicht aber das Prinzip ihrer Nachahmung wechselte. Shake*
speares Einfluß brachte die Formlosigkeit und bloße Wirklichkeits*Bedingtheit des Dramas,
das, auch wenn es des Jambus oder der liederlichen englischen Mischung von Vers und Prosa
oder des Alexandriners oder sonstiger antiker und romanischer Versmaße sich bediente, sie
nicht als notwendigen Ausdruck des Inhalts zu erfüllen suchte, sondern als bloßen musi*
kalischen äußeren Klang wertete, der neben der realistischen und dialektischen Mitteilung
des Inhalt herging, um irgendwie das schulmäßig geforderte Vorhandensein von »Poesie« zu
fingieren, vielleicht auch nur, um dem Spieler das Memorieren zu erleichtern und dem Ge*
dächtnis des Publikums besser seine trocken*verständigen Sentenzen einzuprägen. Der Roman
verzichtete auf jede sprachlich*dichterische Form überhaupt: er gab als Erzählung und
Rede die niederste materielle Notmitteilung des Alltags, über die er höchstens den Firnis
eines »gepflegten Stils« breitete. Die eigentliche Technik bestand bei Roman und Drama in
der Erregung, Steigerung und wirkungssichern Lösung einer Spannung, wie sie aufregen*
den Situationen des Lebens, aber nimmermehr der Kunst zu eigen ist.
Damit zerfiel die poetische Technik in eine Wissenschaft der Illusionswirkungen und in eine
Wissenschaft der formalen Klang* und Takt*Wirkungen; und selten wurden beide Wissen*
schäften von einem Dichter gemeistert — Goethes Bedeutung bestand mit darin, daß dies
bei ihm der Fall war. Bei andern trat ein Spezialistentum ein, wie es nur die Reinkultur er*
lernter Technik zu erzeugen vermag: wer sich auf Novelle oder Drama warf, wie Kleist, Hoff*
mann, Grillparzer, vermochte keinen formahlyrischen Vers zu schreiben; wer die Vers*Kultur
pflegte, wie etliche Romantiker oder gar wie Platen, dem blieb die »lebenswahre« Wirkung
von Roman und Drama versagt. Diese Feststellung versteht sich ganz ohne Rücksicht auf
den Inhalt und trifft weder den geistigen Wert dieser Dichter, noch ihre fundamentalen Unter*
schiede als lyrische, epische oder dramatische Naturen — denn sie folgten in der Art, wie
sie sich aussprachen, nicht ihrer Natur, sondern bestimmten überlieferten Techniken, in die
sie sich, ohne nach deren Berechtigung zu fragen, oft mühsam einarbeiteten, weil diese eben vor*
handen waren, und weil ohne sie ein Dichten in bestimmten »Gattungen« zu ihrer Zeit nicht
möglich war. Der Vers eines Grillparzerschen Dramas ist konventionelle Unform; er
hält beim Lesen und Sprechen nicht Stand, sondern nur beim Spiel des Schauspielers, das

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