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Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 40.1929

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Michel, Wilhelm: Neue Zeit - Neues Denken: Versöhnung alter Gegensätze, Erneuerung der Begriffe
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https://doi.org/10.11588/diglit.10701#0333

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NEUE ZEIT-NEUES DENKEN

versöhnung alter gegensätze — erneuerung der begriffe

Lieber Freund, wir haben in diesen letzten Jahren
4 endlose Stunden hingebracht im Gespräch
über jene tiefgreifende geistige Wendung, die un-
sere Zeit erfaßt hat und die Sie, den Architek-
ten, genau in gleicher Weise anging wie mich,
den Erzieher. Und über alle unsre Erörte-
rungen hinweg darf ich Ihnen sagen: Sie haben
mir bei der Betrachtung, bei der geistigen Bewäl-
tigung des eben unter uns Geschehenden viel
mehr durch Ihr reales Sein weitergeholfen als
durch Ihre begrifflichen Prägungen. . Ich selbst
hänge ja im Wort, im Begriff; und das heißt un-
ter anderem, daß gewisse Gegensatzwerte,
»Polaritäten« mein Denken führten, von denen

ich nicht loskommen konnte.............



Solche »Gegensatzwerte« haben das Denken
jeder Epoche beherrscht. So steht z. B. das Denken
unserer Klassiker unter dem Gegensatzpaar »Na-
tur und Kunst« oder »Ideal und Leben«, das
Denken der Romantik unter der Polarität »End-
lich-Unendlich« oder »Vernunft und Ge-
fühl« und so weiter. So sind auch unsere Erör-
terungen vielfach — durch meine Veranlassung
— von dem Begriffs - Gegensatz zwischen dem
»Organischen und dem Mechanischen«
oder zwischen »Seele und Intellekt« bezw.
Geist, Zweckdenken beherrscht gewesen. Und
gerade hinsichtlich dieser Polaritäten ist mir nun
etwas aufgegangen, das ich Ihnen sagen möchte.

*

Ich glaube nämlich begriffen zu haben, daß
eine neue Zeit auch ihre Denk-Polaritäten erneu-
ern muß, — daß wir, geradeaus gesagt, mit den
alten Gegensatz-Werten die Wirklichkeit eines
neuen Geistesgeschehens ganz einfach nicht er-
fassen können. Sie treffen nicht mehr zu, sie
haben keine führende, keine benennende Kraft
mehr. So scheint mir z. B. der alte Gegensatz
zwischen dem »Organischen« und dem »Me-
chanischen«, als Maßstab auf das Menschen-
werk angewandt, weitgehend zurückgedrängt
zu sein; und ebenso der Gegensatz zwischen
»Seele« und »Intellekt«. Sehe ich mir wahr-
haft heutige Menschen an — auch Sie gehören
dazu — so bemerke ich mit zunehmendem Stau-
nen: in ihnen ist der Intellekt nicht mehr seelen-
feindlich, nicht mehr lebensfeindlich, und was sie
aufgrund ihres Menschendenkens hervorbringen,
läßt sich ganz einfach nicht mehr unter der ver-
alteten Polarität »Mechanisch-Organisch« betrach-
ten. . Der Intellekt »sitzt« in diesen modernen
Menschen ganz anders als in der früheren Gene-
ration. Er hat eine viel tiefere Kenntnis seiner
selbst und der ganzen menschlichen Konstitution.

Er ist Freund des Lebendigen und steht nirgends
zu ihm in einem bösartigen Gegensatz. Er hat
gewissermaßen eine Unschuld gewonnen, eine
Gelehrigkeit, ein gutes Gewisser, die er bei der
früheren Generation noch nicht besaß. Was die-
ser moderne Intellekt hervorbringt, fügt sich der
Menschenwelt vernünftig und klar und — ja, ich
muß es offen sagen — durchaus organisch ein.
Der Mensch selbst hat sich geändert — und des-
halb können wir ihn nicht mehr unter dem Ge-
sichtspunkt von Gegensatzwerten betrachten, die
vielleicht früher einmal aufschlußreich waren, die

aber heute die Sache nicht mehr treffen......

*

Der heutige Mensch ist dichter, geordneter,
belehrter, als wir es in unsrer Jugend waren, und
vor allem stehen seine Kräfte besser und unmit-
telbarer zu einander wie in uns: seine Vernunft
zu seiner Seele, sein mechanisches Hervorbringen
zum Organischen des gesamten Lebens. Ja, sehe
ich recht zu, so glaube ich zu finden, daß er,
trotz seiner angeblichen Unfrömmigkeit, von der
Ordnung, die die Religion im Menschen bewir-
ken will, sehr Vieles faktisch in sich verkör-
pert, darstellt, »west« (von »Wesen«) — und
gerade deshalb weniger davon redet.......

Wer kann denn heute noch, in unserer Zeit,
im Ernst von der »unmenschlichen Maschine«,
von dem »entseelten Menschenwerk« reden oder
von dem »dämonischen Intellekt«? Das stimmt
ja alles nicht mehr: der Intellekt des moder-
nen Menschen weiß vom Leben, er weiß von sei-
ner Zugehörigkeit zum Seelischen; man sagt glatt
die Unwahrheit, wenn man behauptet, dieser In-
tellekt habe sich vom Leben emanzipiert. Dazu
kennt er seinen biologischen, seinen psycholo-
gischen Ort viel zu gut. Er nimmt eben nur sei-
nen Auftrag ernst und wirkt, was ihm zu wirken
übertragen ist, ohne jede dämonische Überhitzung,
frei von jeder frevlerischen Selbstüberhebung. . .

Wir müssen also, wie mir scheint, Schluß
machen mit jenen Denk- und Wertkategorien,
die wir aus der Vergangenheit übernommen haben.
Wer ihnen verhaftet bleibt, verurteilt sich selbst
zur Sterilität. Jeder, der einen offenen Blick in
die Zeit getan hat, muß zugeben: es lebt ein
anderes Geschlecht. . Auch dieses neue
Geschlecht wird den Spannungen, den polaren
Fragen, den Entscheidungen, dem Entweder-Oder
nicht entgehen. Aber diese Spannungen werden
andere Namen haben als die alten, deren wir uns
entwöhnen sollten, wenn wir nicht haben wollen,
daß unser Denken zum toten Ballast wird statt
zu einer Förderung des Lebens. . . wilhelm michel.
 
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