Innendekoration: mein Heim, mein Stolz ; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort — 40.1929
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https://doi.org/10.11588/diglit.10701#0336
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Ziegler, Leopold: Der kommende Ausgleich
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314
INNEN-DEKORATION
ARCHITEKT PHILIPP SCHAEFER-HAMBURG FENSTERWAND IN EINER WOHNHALLE
DER KOMMENDE AUSGLEICH
Was war alles in allem das alte »Mittelalter«?
In nuce der europäische Versuch, zwei ge-
trennte Erlebnis-Reihen: hier als »Wissen«, dort
als »Glauben«, hier als Vernunft, dort als Offen-
barung womöglich widerspruchslos miteinander zu
versöhnen. . Und was ist alles in allem das »neue
Mittelalter«? der ganz und gar gleichartige Ver-
such, — nur freilich durch unsere geschichtliche
Lage unsäglich kompliziert geworden, — zwei bis-
her nicht vereinbarte Stufen des menschlichen
Weltbewußtseins als »primordiale« und »mo-
derne« Mentalität soweit zu vereinbaren,
daß die eine die andere weder endgültig ver-
drängt, noch daß uns selbst ihre übermäßige Span-
nung in Stücke zerreißt. Vom Gelingen dieses ge-
wagtesten Sozial-Experimentes der europäischen
Geschichte hängt offenbar unsere kontinentale Zu-
kunft ab: nur wenn Europa diesen Ball durchs Tor
bringt, ist der europäische Geist gerettet......
Das »neue Mittelalter« wird demnach weder die
unentbehrlichen Errungenschaften des »verwissen-
schaftlichten« Geistes preisgeben, noch wird es
sich durch diese Errungenschaften bestechen lassen,
die unersetzliche sakrale Schöpfung des »urtüm-
lichen« Menschen außer Kraft zu setzen. . . Die
»sekundäre Wirklichkeit« technischer Pro-
dukte und maschineller Apparate wird der späte
Europäer zwar durchaus positiv bewerten, er wird
sich aber dennoch vor dem Wahne hüten, sämt-
liche Bezüge von Mensch zu Mensch oder von
Mensch zur Umwelt seien nunmehr ausschließlich
durch Maßnahmen des »Ingenieurs« zu ordnen. .
★
Denn die Wahrheit ist, daß kein individuelles
oder kollektives Gebilde im Zustand vollendeter
»Durchwissenschaftlichung« lebensfähig bleibt.
Die Wahrheit ist, daß sich die endgültige »Ab-
dichtung« des Menschen von seinen vor- und über-
wissenschaftlichen Kraftquellen durch Erkrankung,
Siechtum oder Tod früher oder später rächt. . . .
Wo der Mensch wahrhaft fortbestehen soll,
darf der »Urmensch« in ihm nie endgültig sterben.
Folglich wird in einem agonalen Ausgleich
zwischen Mensch und »Urmensch« das kom-
mende Mittelalter seinen essentiellen Sinn entfalten.
LEOPOLD ZIEGLER (in »der europäische geist.« reichl-verlag 1929.)
INNEN-DEKORATION
ARCHITEKT PHILIPP SCHAEFER-HAMBURG FENSTERWAND IN EINER WOHNHALLE
DER KOMMENDE AUSGLEICH
Was war alles in allem das alte »Mittelalter«?
In nuce der europäische Versuch, zwei ge-
trennte Erlebnis-Reihen: hier als »Wissen«, dort
als »Glauben«, hier als Vernunft, dort als Offen-
barung womöglich widerspruchslos miteinander zu
versöhnen. . Und was ist alles in allem das »neue
Mittelalter«? der ganz und gar gleichartige Ver-
such, — nur freilich durch unsere geschichtliche
Lage unsäglich kompliziert geworden, — zwei bis-
her nicht vereinbarte Stufen des menschlichen
Weltbewußtseins als »primordiale« und »mo-
derne« Mentalität soweit zu vereinbaren,
daß die eine die andere weder endgültig ver-
drängt, noch daß uns selbst ihre übermäßige Span-
nung in Stücke zerreißt. Vom Gelingen dieses ge-
wagtesten Sozial-Experimentes der europäischen
Geschichte hängt offenbar unsere kontinentale Zu-
kunft ab: nur wenn Europa diesen Ball durchs Tor
bringt, ist der europäische Geist gerettet......
Das »neue Mittelalter« wird demnach weder die
unentbehrlichen Errungenschaften des »verwissen-
schaftlichten« Geistes preisgeben, noch wird es
sich durch diese Errungenschaften bestechen lassen,
die unersetzliche sakrale Schöpfung des »urtüm-
lichen« Menschen außer Kraft zu setzen. . . Die
»sekundäre Wirklichkeit« technischer Pro-
dukte und maschineller Apparate wird der späte
Europäer zwar durchaus positiv bewerten, er wird
sich aber dennoch vor dem Wahne hüten, sämt-
liche Bezüge von Mensch zu Mensch oder von
Mensch zur Umwelt seien nunmehr ausschließlich
durch Maßnahmen des »Ingenieurs« zu ordnen. .
★
Denn die Wahrheit ist, daß kein individuelles
oder kollektives Gebilde im Zustand vollendeter
»Durchwissenschaftlichung« lebensfähig bleibt.
Die Wahrheit ist, daß sich die endgültige »Ab-
dichtung« des Menschen von seinen vor- und über-
wissenschaftlichen Kraftquellen durch Erkrankung,
Siechtum oder Tod früher oder später rächt. . . .
Wo der Mensch wahrhaft fortbestehen soll,
darf der »Urmensch« in ihm nie endgültig sterben.
Folglich wird in einem agonalen Ausgleich
zwischen Mensch und »Urmensch« das kom-
mende Mittelalter seinen essentiellen Sinn entfalten.
LEOPOLD ZIEGLER (in »der europäische geist.« reichl-verlag 1929.)