Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

DOI Heft:
Heft 2
DOI Artikel:
Worringer, Wilhelm: Die Kathedrale in Reims
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0105

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
französischen Charakterzuspitzung der Reimser
Kathedrale und erklärt genügend einesteils die
Eindringlichkeit ihrer historischen Wirkung, ander-
seits den französichen Ehrentitel der Königin der
gotischen Kathedralen, den sie noch heute trägt.

Reich ist die Forscherarbeit, die sich dieser
Glanzschöpfung der reifen Gotik gewidmet hat
und gerade in die widerspruchsvolle Baugeschichte
des Reimser Domes haben neuere Forschungen,
besonders die von Louis Demaisons, einiges Licht
gebracht. Hat an diesen baugeschichtlichen Unter-
suchungen schon deutsche Gelehrtenarbeit einen
hervorragenden Anteil, so kann man von der
geschichtlichen Durchforschung der Reimser Dom-
plastik geradezu sagen, dass sie ein ausgesprochenes
Lieblingsgebiet der deutseben Forschung ist und
von ihr die entscheidenden Förderungen erfahren
hat. Doch steht auch hier noch das letzte zusammen-
fassende Wort über die vielen stilistischen, chronolo-
gischen und ikonographischen Probleme aus. Denn
über die Skulpturen der Reimser Kathedrale schrei-
ben, heisst die Geschichte der französischen Plastik
der gotischen Jahrhunderte überhaupt schreiben und
der Fachmann weiss, welche Problemfülle hier noch
ungelöst wartet. Wohl kennt jeder die grossen
zeitlos schönen Statuen des Visitatiomeisters vom
Westportal, in denen Gotik und Antike wie an
keiner anderen Stelle der ganzen Kunstgeschichte
so geschwisterlich enge aneinandergerückt sind,
dass man an ihrer chronologischen Einordnung irre

werden könnte(womitnichtgesagtsein soll,dass Ma-
dame Sartors Versuch, sie ins achzehnte Jahrhundert
zu datieren, ernsthaft dikustierbar sei), aber neben
diesen und den anderen populären Figuren des Reim-
ser Statuenwaldes verbergen sich im Schatten der
Gewände, im Dunkel der Baldachine und in der Ent-
legenheit der höheren Partien noch eine Unzahl
plastischer Wunder, die der Entdeckung harren.
Wilhelm Vöge hat mit Recht daraufhingewiesen,
dass gerade die revolutionären Jungen, die Kraft
ihres angeborenen und unverbildeten plastischen
Instinkts zuerst die grosse sakrosankte Traditions-
linie durchbrachen, sich nur an Nebenstellen aus-
toben durften, und dass infolgedessen die stärksten
Künstlerindividualitäten des mittelalterlichen Frank-
reichs noch gar nicht entdeckt seien. Mit der
Herausarbeitung des Reimser „Peter und Paulus-
meister" hat Vöge selbst den schönsten Anfangs-
schritt dieser Entdeckungsgeschichte der grossen
Namenlosen gemacht. Vielleicht wird das grosse
Werk, das uns Vöge seit vielen Jahren über die
Reimser Kathedralstatuarik versprochen hat, den
Franzosen bald Gelegenheit geben, ein wenig ge-
rechter über das deutsche Barbarentum nachzu-
denken. Wie dem auch sei, wir werden fortfahren,
über alle Barrikaden des nationalen Hasses hinweg
unseren Blick und unsere Bewunderung frei und
ungetrübt dorthin schweifen zu lassen, wo uns die
Schönheit in einer ihrer tausendfältigen Verkörpe-
rungsmöglichkeiten grüsst.

SKULPTUR VON DER KATHEDRALE IN REIMS


 
Annotationen