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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 3
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Chronik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0151

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CHRONIK

DAUMIERS RUSSENKARIKATUREN

Man könnte mit ziemlich leichter Mühe eine Ge-
schichte des Zarismus in der Karikatur schreiben
und diese Sammlung würde nicht nur eine Fülle ganz aus-
gezeichneter Karikaturen enthalten können, sondern —
und das ist das Bezeichnendste — die meisten dieser
bildlichen Dokumente würden heute noch genau so
aktuell sein, wie am Tage ihres ersten Erscheinens. Das
macht, weil der Zarismus im Laufe der Jahrhunderte
immer und unwandelbar dasselbe volksfeindliche Prin-
zip verkörperte, nämlich das des ungeheuersten Wider-
sachers aller menschlichen Kultur. Alles Barbarische
hatte in ihm dauernd seinen Hort und seinen zuver-
lässigen Stützpunkt. Der Zarismus hat nicht nur dauernd
jede edle und irgendwie freiere Regung der Einzelnen
und der Massen im eigenen Lande stets geknebelt, son-
dern überall, wo in Westeuropa von einer Regierung
ein Kampf gegen einen selbstherrlichen Aufstieg der
Massen geführt wurde, lieh der Zarismus sofort in
irgendeiner Form der betreffenden Regierung seine
brutale Faust als zuverlässige Hilfe. Dies gilt von dem
Tage der Heiligen Allianz bis auf die allerjüngste Zeit.
Und diese Hilfe wurde häufig genug gefordert.

Für den menschlichen Fortschritt gab es somit in
Europa seit Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts nie-
mals einen gefährlicheren politischen Gegner und die
Bekämpfung des Zarismus war für die Vorwärts-
strebenden aller Länder darum stets gleichbedeutend
mit einer Bekämpfung der Reaktion im eigenen Lande.

Auf Grund dieser Thatsache ist es ebenso folgerichtig,
dass, seit eine internationale politische Karikatur
grösseren Stils existiert, also etwa seit der zweiten Hälfte
des achtzehnten Jahrhunderts auch die Karikatur mit
grosser Energie den Zarismus bekämpfte, gewisser-
massen als das böseste Prinzip im Völkerleben.

Und darum kann auch Honore Daumier in diesem
Reigen nicht fehlen. Das Höchste ist für Daumier stets
die Politik gewesen. Er war Politiker mit Leib und
Seele, und zwar im hohen Sinne des Wortes. Für ihn
bedeutete die Politik das, was sie für verantwortungs-
bewusste Menschen noch immer bedeutet hat: thätig
mitzuarbeiten an der Gestaltung des Einzel- und Ge-
samtwohls und damit wiederum im besten Sinne der
Menschheit zu dienen. Sein stets lebendiges Verantwort-
lichkeitsgefühl war so stark, dass er auf das Mitreden in
der Politik niemals länger verzichtete, als wie gesetz-
liche Massregeln ihn daran hinderten. An dem Tag, an
dem vorhandene Fesseln auch nur ein wenig sich locker-
ten, war er schon wieder in der Front. Die Politik war
für ihn das Selbstverständliche.

Aus diesem Grunde ist der Elan, der die zahl-

reichen antizaristischen Blätter Daumiers — es dürften
sechzig bis achtzig sein — durchströmt, besonders
stark. Er ist fast ebenbürtig dem, womit er vom
Jahre 1830—1835 Louis Philipp und von 1848 an Louis
Napoleon bekämpfte. Aber auch noch aus einem
anderen Grunde ist dieser Elan so gross. In der Zeit,
in der seine antizaristischen Blätter enstanden, durfte sich
Daumier zum erstenmal wieder nach mehreren Jahren
politisch ausleben. Als nämlich der dritte Napoleon durch
seinen Staatsstreich im Dezember 185:1 politisch gesiegt
hatte, wurde die politische Karikatur, die vor allem ihn so
mitleidslos zerzaust hatte, sofort gänzlich mundtot ge-
macht. Während beinahe drei Jahren herrschte infolge-
dessen in Frankreich völlige Kirchhofsruhe in der poli-
tischen Karikatur. Eine Änderung dieses Zustandes
brachte der Krimkrieg. Im Interesse seiner Herrschafts-
stellung war Napoleon der Dritte gezwungen, sich ener-
gisch mit demrussischenGötzenauseinanderzusetzen.Um
jedoch diesen Kampf mit Erfolg durchhalten zu können,
musste er die Volksstimmung auf seiner Seite haben.
Dieses war aber nur zu erreichen, indem er der Presse
von neuem Bewegungsfreiheit gab. Also bekam auch
die Karikatur die hohe kaiserliche Genehmigung, den
Zarismus karikaturistisch anzugreifen. Dass die fran-
zösische satirische Presse, voran der „Charivari", diese
Gelegenheit weidlich ausnutzte, ist ohne weiteres
begreiflich. Alle karikaturistischen Künstler der Zeit
überragte Daumier. Nicht nur durch seine künstlerische
Überlegenheit, sondern auch durch den unerschöpflichen
Reichtum seiner Einfälle. Immer wenn nämlich Daumiers
politischer Bethätigungstrieb längere Zeit gehemmt ge-
wesen war und dann wieder entfesselt wurde, entlud
sich seine Leidenschaft förmlich wie ein Gewitter, wie
eine NaturofFenbarung. Das Genie Daumiers brauchte
sich hier gar keine Schranke zu setzen, darum verbindet
sich sein titanischer Hass in diesen Blättern mit einem
ebenso grandiosen Humor.

Und noch ein Umstand hebt die antizaristischen
Karikaturen Daumiers besonders stark hervor. In den-
selben Jahren von 1852 an, erreichte Daumiers künstler-
ischer Stil seinen zweiten Höhepunkt. Er wurde damals
breiter, flächiger und von einer bis dahin nie erreichten
Freiheit und Kühnheit der Linie und der Komposition.
Alles dies beweisen schon die wenigen hier eingeschal-
teten Beispiele.*

Eduard Fuchs.

* Anm. der Red.: Sie sind zwei Mappen entnommen
„les cosaques" und „Chargeons les Russes", die, im Charivari-
Verlag seiner Zeit erschienen, heute selten geworden sind
und die neulich bei Max Perl, Berlin ausgestellt waren.

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