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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 6
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Chronik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0304

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CHRONIK

Paul Genien, der bekannte Bonner Kunsthistoriker,
hat im Auftrage der Obersten Heeresleitung die
Städte an der französischen Kampffront bereist und über
deren Zustand den folgenden vorläufigen Bericht er-
stattet:

,,Die Schäden an den historischen Baudenkmälern
im nördlichen und östlichen Frankreich sind innerhalb
unseres Etappengebietes bis in die hintere Zone des
Operationsgebietes relativ gering. Man darf vor allem
hervorheben, dass ganz unberührt geblieben sind von
Nordosten angefangen Cambrai, Douai, Valenciennes,
St. Quentin, die ihre reichen Kirchen, die Rathäuser
wie die Museen noch unversehrt bewahren. Lille, in
dem, obwohl es als offene Stadt bezeichnet war, unsere
Truppen unerwartet und heimtückisch Feuer erhielten,
ist nur anderthalbTage lang von Südosten her beschossen
worden; zumal in der Gegend des Hauptbahnhofes sind
ganze Strassenviertel und einzelne Häuserfronten durch
das Bombardement zerstört, doch haben die historischen
Denkmaler darunter kaum gelitten. An der Kirche St.
Maurice ist an einem der vier Giebel der Westfront die
Spitze weggeschossen. Der Barockbau der Grande Garde
an der Grande Place ist ebenso an der Spitze der Fassade
durch eine Granate beschädigt, aber bei beiden Bau-
werken ist dieser Schaden lokal beschränkt. Das Museum,
dessen mächtiger, in den achtziger Jahren durch die
Architekten Berard und Delmas errichteter Prachtbau
die eine Seite der Place de la Republique im Zentrum
der Stadt einnimmt, ist von verschiedenen Granaten,
vor allem aber reichlich von Schrapnells getroffen
worden. Die Granaten haben in der Hauptsache nur an
der Aussenarchitektur der Südseite Schaden gethan. Eine
ist in den südöstlichen Ecksaal im oberen Stock einge-
drungen: die Schrapnells aber haben die sämtlichen
Fenster der Oberlichter zerschlagen, dazu sind auch die
Scheiben im Hofe durchweg durch den Luftdruck ge-
sprungen. Eine Reihe der grossen von ihren Plätzen
nicht zu entfernenden Gemälde ist durch Schrapnells
oder durch herabstürzende Glassplitter und Bruchstücke
des Daches beschädigt, zum Glück aber keines von den
wertvollen Objekten. Die kostbarsten Bilder hat der
Museumsdirektor Em. Theodore, der während der gan-
zen Beschiessung in dem Museum anwesend war, wäh-
rend des Kugelregens selbst mit persönlicher Aufopfe-
rung gerettet. Auch die berühmte Wachsbüste von Lille
ist, wie ich festgestellt habe, in einem besonderen Gelass
des Kellers sicher und vor jeder Beschädigung wie vor
Feuchtigkeit oder Kälte geschützt untergebracht.

Von den historischen Städten nördlich von der Aisne-
front sind zum Glück Laon und auch Noyon gänzlich
unberührt. Die beunruhigenden Nachrichten, dass
Noyon, um das wiederholt gekämpft worden ist, be-
schädigt sei, haben sich nicht bestätigt. Die Kathedrale

wie das Hotel de ville sind unverletzt. Bei den not-
wendig gewordenen Zerstörungen einzelner Orte zwi-
schen der Nordostgrenze Frankreichs und der Aisnelinie
ist ganz deutlich zu verfolgen, wie die Heeresleitung
überall sorgsam um die Erhaltung der historischen Bauten
bemüht gewesen ist. Bei der Beschiessung und der
daran angeschlossenen Einäscherung von Rethel ist die
hochgelegene Kirche St. Nicolas, an deren Süd- und Ost-
seite sich nur ein einziges langgestrecktes Trümmerfeld
hinzieht, mit ihrem reizvollen spätgotischen Südportal
völlig unversehrt erhalten. An der Schlachtfront nörd-
lich und östlich von Verdun und um den Argonnerwald
sowie vor dem Woevre in der vorderen Linie des
Operationsgebietes sind natürlich eine ganze Reihe von
Ortschaften bei dem Hin- und Herwogen des Kampfes
völlig zerstört, doch konnten dafür auf dem Wege, den
unsere Truppen nach dem Südwesten genommen haben,
gerade die wichtigsten Monumente sämtlich sorgsam
geschont werden. Ganz unversehrt ist in ihrer Aus-
stattung die spätgotische Wallfahrtskirche zu Avioth,
nördlich von Montmedy und ebenso die frühgotische
Wallfahrtskirche zu Mont, südlich von Stenay, mit ihrem
so überraschend reichen Figurenportal. Ganz unberührt
ist ebenso mit ihren Schätzen, den Stiftungen der fran-
zösischen Könige, eine dritte berühmte Wallfahrtskirche,
Notre-Dame de Liesse östlich von Laon.

Unsere Hauptsorge gilt jetzt den Denkmälern von
Reims und Soissons, die beide von unseren Truppen eng
eingeschlossen, beide von den Franzosen aus Stellungen
hinter der Stadt und in der Stadt selbst auf das hartnäk-
kigste verteidigt werden. In Reims hat die Aufstellung
von schweren Batterien unmittelbar vor der Kathedrale,
die von Fliegern festgestellte Sammlung von Truppen-
massen und von Munitionskolonnen auf der Place du
Parvis vor der Westfront und die Benutzung des nörd-
lichen Turmes als Signalstation für Lichtsignale wie am
Tag für eine Winkerstation und offenbar auch als Tele-
phonstation unsere Artillerie gezwungen, nachdem sie
den strengen Befehlen unserer obersten Heeresleitung
entsprechend lange sich vor der Beschiessung der Kathe-
drale selbst gescheut hatte, den ehrwürdigen Bau wider-
strebenden Herzens unter Feuer zu nehmen. Durch
die Mitteilungen unserer obersten Heeresleitung ist es
ausser allem Zweifel, dass eine starke Artilleriegruppe
unmittelbar nordöstlich vor der Kathedrale, wahrschein-
lich unter dem Schutz der dichten Bäume auf dem
breiten Boulevard de la Paix in der Richtung aufNogent-
l'Abbesse aufgestellt war, von dessen Höhe aus am
r8. September die Beschiessung des Zentrums der
Stadt stattfand. Die Kathedrale musste direkt als
Kugelfang füt jedes etwas zu hoch über diese Stellung
hinausfliegende deutsche Geschoss wirken. Und eben-
so ist eine zweite Gruppe schwerer Artillerie in der
 
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