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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 2
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Chronik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0107

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CHRONIK

In Genf ist ein französisch abgefasster Protest er-
schienen, in dem es heisst:
„Die Unterzeichneten, Bürger der Schweiz, heftig
erregt durch das ungerechtfertigte Attentat auf die
Kathedrale von Reims, das der absichtlichen Verbrennung
der historischen und wissenschaftlichen Reichtümer
von Löwen folgt, missbilligen mit aller Energie einen
Akt der Barbarei, der die ganze Menschheit in einem
der edelsten Zeugen ihrer moralischen und künstle-
rischen Grösse trifft."

Dieser Protest ist auch unterzeichnet worden von
Ferdinand Hodler und Jaques Dalcroze. Die Empörung
darüber in Deutschland hat sich nicht nur in den Zei-
tungen geäussert; sondern auch darin, dass die Münchener
Sezession, der deutsche Künstlerbund und die Berliner
freie Sezession Ferdinand Hodler als Mitglied ausge-
schlossen haben. Dasist eine natürliche Konsequenz. Selbst
wenn man annimmt, dass Hodler und Dalcroze unter der
Suggestion französischer Lügen gestanden haben, dass sie
dem Impuls des Augenblicks gefolgt sind, wie Künstler es
zu thun pflegen, oder dass sie wohl
gar den Wortlaut des Protestes
nicht gekannt haben, bleibt die
Hergabe ihrer guten Namen für
eine so schlechte Sache doch eine
hässliche Handlung. Sie mussten
wissen, dass sie Vertreter ihrer
Nation sind und dass mit ihnen
die ganze Schweiz Lügen und Ver-
leumdungen unterzeichnet zu
haben scheint. Daher in Deutsch-
land auch die Erregung. Wie sollte
es den Deutschen, deren auf
den Schlachtfeldern verblutende
Söhne in diesem Protest be-
schimpft werden, gelingen die
Angelegenheit nachsichtig zu
behandeln, - wie Schweizer
Zeitungen es empfehlen —
wenn die angesehensten Bürger
eines stammverwandten, an den
Kämpfen nicht beteiligten neu-
tralen Staates es so an männlicher
Mässigung fehlen lassen! Es
bleibt, wie man die Dinge auch
ansieht, die Thatsache, dass
Hodler und mehr noch Dalcroze
das ihnen enthusiastisch gewährte
Gastrecht in gröblicher und
schnöder Weise verletzt haben.
Dieses galt von je als „bar-
barisch". In Hodlers Biographie
wird seine unglückselige Unter-

GRABVASE FÜNFTES JAHRHUNDERT V. CHR.

schrift einst ein dunkler Punkt sein, wenn er sich jetzt
auch bemüht sie als nicht deutschfeindlich hinzustellen.
Für die endgültige Beurteilung von Jacques Dalcroze ist
seine Feindseligkeit sogar entscheidend. Beide waren
alldeutsche Ehrenbürger, ihrem Wollen, ihrem Talent,
ihren Interessen und Erfolgen nach; sie waren geistig
bei uns naturalisiert und mit tausend Fäden der Dank-
barkeit sollten sie unserm Idealismus, unserer Kultur
verbunden sein. Jetzt haben sie sich plötzlich wieder
zu Schweizern gemacht, nein, zu französischen Schwei-
zern. Der Tag wird kommen, wo sie einsehen werden,
dass sie ihrer selbst gespottet haben, ohne zu wissen wie,
als sie das zu brandmarken glaubten, was ihrer Lebens-
arbeit zur festesten Grundlage geworden ist: die deut-
sche Kultur.

Angesichts dieses Vorfalls mag es nützlich sein an einen
anderen Schweizer zu erinnern, der nicht nur ein grosser
Künstler, sondern auch ein grosser Charakter war. Gott-
fried Keller, der doch wohl von den Schweizern selbst
als ihr bester Repräsentantin der neueren Zeit angesehen
wird, hat mit der ihm eigenen
Deutlichkeit auf die Behauptung,
Bildung und Sitte der deutschen
Schweizsei wesentlich französisch,
schon 1860 erwidert: „Soviel da-
von ist richtig, dass auch wir
ein unsterbliches Geschlecht von
Gaffernhaben, die nach Frankreich
gaffen und nicht eher klug
werden, als bis sie eine tüchtige
Kelle voll Elend in den offenen
Mund bekommen haben." Und
auf einem Bankett im Jahre 1873
hat er, allen schweizerischen
Partikularisten zum Trotz, gesagt,
vielleicht käme eine Zeit, wo das
deutsche Reich auch Staatsformen
ertrüge, die den Schweizern not-
wendig seien und dann sei eine
Rückkehr dieser wohl denkbar.
Unter bestimmten Voraussetz-
ungen könnte die Schweizer-
republik ihre Kraft und ihr altes
Wesen wohl wiedergewinnen,
wenn sie in freien Verein mit
ähnlichen Staatsgebilden zu einem
grossen Ganzen in ein Bundes-
verhältnis treten könnte. „Wenn
ich," sagte Keller in der Folge,
„für einen solchen Anschluss, ein
solches Unterkommen in künf-
tigen Weltstürmen mit Vorliebe
an Deutschland dachte, so ge-

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