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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 13.1915

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Heft 6
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Behrendt, Walter Curt: Der nordische Geist in der französischen Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.4714#0266

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her, seit dem Zusammenbruch der Römerherrschaft
in Gallien, die Architektur Frankreichs beherrscht
hat, jenen typischen Dualismus, der stets da zu be-
obachten ist, wo sich im Geistesleben eines Volkes
die Einwirkungen verschiedener Rassenelemente
bemerkbar machen.

Germanen waren es, welche in den gallischen
Provinzen das Erbe der römischen Herrschaft an-
traten. Sie brachten aus ihrer Heimat keine selb-
ständige, aus Eigenem erstarkte Kultur mit, sondern
bauten auf den Trümmern der vorgefundenen
Tradition auf, ohne dass schon irgendwie eine
rassenbewusste Auseinandersetzung mit der antiken
Überlieferung zu beobachten wäre. Die Reiche
der Goten, Vandalen, Burgunden, sagt Dehio, sind
entstanden und wieder vergangen, ohne zu einem
eigenen Blatt in der Kunstgeschichte Stoff zu geben.
Erst mit Karl dem Grossen wird das Germanentum
eine aufbauende, selbständig gestaltende Macht in
der Weltgeschichte. Von nun an spürt man dauernd
in Politik und Geistesleben die schöpferischen Wir-
kungen der nordischen Rasse. Was die Baukunst
betrifft, so leitet die Epoche Karls des Grossen
die bis auf den heutigen Tag nicht mehr unter-
brochene Folge der denkwürdigen Auseinander-
setzungen zwischen nordisch-germanischem und
südlich-romanischem Kunstempfinden ein. Von nun
an wird die antike Überlieferung, wie sie in den
zahlreichen Denkmälern aus der Zeit der Römer-
herrschaft an allen Orten noch angetroffen wurde,
nicht mehr kritiklos aufgenommen und äusserlich
nachgeahmt, sondern es wird bewusst eine Um-
formung aus eigener Kraft, eine Anpassung an die
eigene, allmählich erstarkte Kunstempfindung ver-
sucht. Es lässt sich beobachten, wie nach und nach
ein fremdes Element nach dem andern abgestossen
wird, wie das übernommene Eibe, durch den
Rasseninstinkt gereinigt, zu einer neuen Synthese
verwertet wird. Das primäre Gesetz antiken Bau-
wollens, das Gesetz der Symmetrie, wird unbedenk-
lich aufgegeben, eine neue freiere Auffassung in der
Anordnung und Verteilung der Baumassen macht
sich allmählich geltend: die bewusst unsymmetrische,
auf malerische Wirkung abzielende Gruppierung;
und was die Masse selbst betrifft, ihre Gliederung
und Aufteilung im einzelnen, so zeigt sich eine starke
Neigung zur Herausarbeitung des Funktionsaus-
druckes, zur Betonung des Besonderen, für die ein-
zelne Bauaufgabe Charakteristischen, im völligen
Gegensatz zu den typisierenden Tendenzen der rö-
mischen Architektur. Der (fälschlich sogenannte)

romanische Stil, dessen Entwicklung mit der frän-
kisch-karolingischen Bauweise etwa einsetzt, ist die
erste reife Frucht dieser grossen, mit lebendiger That-
kraft geführten Auseinandersetzungen geworden.

Einzelne Elemente dieses neuen Stils haben, wie
bekannt, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert
im Herzen Frankreichs eine rasche, auf einen Punkt
hintreibende Ausbildung und einseitige Übersteige-
rung erfahren, eine Entwicklung zu neuer bewuss-
ter Gesetzmässigkeit und strenger Systematik, deren
höchste und schönste Blüte wir in der hehren Maje-
stät der grossen gotischen Kathedralen bewundern.
Über diese Entwicklung und über die französisch-
deutschen Kunstbeziehungen dieser Zeit hat Wilhelm
Worringer vor kurzem erst in diesen Heften berich-
tet*. Wir wollen daher die Geschichte dieser Ent-
wicklung hier nicht wiederholen, sondern dieSpuren
des nordischen Baugeistes in Frankreich weiter ver-
folgen, ins späte Mittelalter hinein, wo sie sich an
einer Reihe von Denkmälern der Profanarchitektur,
in den Wehr- und Burgenbauten und in den Befesti-
gungswerken der städtischen Siedlungen, in beson-
ders markanter und eindrucksvoller Weise ausge-
prägt finden.

Bisher hatte die Religion, als beherrschendes
Lebensmotiv der Zeit, alle verfügbare Kunstkraft
auf die grossen Monumentalaufgaben des Kirchen-
baues konzentriert. Dieser planmässigen Sammlung
der Baugedanken auf einen Punkt verdankt der
gotische Stil seine wunderbare organische Einheit-
lichkeit. Mit der wachsenden Macht des Adels
und mit dem erstarkenden Selbstbewusstsein der
Städte tritt in dieser Beziehung nun eine Ände-
rung ein; neue profane Bauaufgaben, die eine
sichere Beweglichkeit der Anschauungen und eine
grössere Freiheit der Gestaltung verlangen, drängen
jetzt zur Lösung. Und es ist ausserordentlich lehr-
reich zu beobachten, wie der nordische Baugeist
sich mit diesen Aufgaben abfindet, wie er, zur vollen
Reife nun entwickelt, frisch und unbefangen an ihre
Lösung herantritt und wie er seine selbständigen
Schöpfungen mit dem ganzenReichtumeiner jugend-
starken Ausdruckskraft zu erfüllen weiss. Gerade
in Frankreich sind Denkmäler dieser Zeit besser
und in grösserer Zahl erhalten als in Deutschland,
dem Stamm- und Heimatland des neuen Kunst-
geistes. Namentlich in den südlichen Provinzen
finden sich eine Reihe vorzüglich erhaltener Bei-
spiele. Hier zuerst hatten sich, wie die Geschichte
bestätigt, Germanen in geschlossener Stammesorgani-

*) Kunst und Künstler, Jahrgang XIII, Heft 2.

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