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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 18.1920

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Heft 3
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Bulle, Heinrich: Zweckform, Werkform, Kunstform, [2]: eine Studie zur antiken Keramik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4750#0142

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schlitterten Weltanschauung. Es ist kein Zufall,
dass der beginnende Gesundungsprozess unseres
Kunstgewerbes zusammenfällt mit dem philoso-
phischen und religiösen Ringen der neuen Genera-
tion seit 1900.

Die Werkform hat in der Antike stilbildend
nur in den Anfängen gewirkt, da allerdings ent-
scheidend. Der dorische Tempel in seiner Ent-
wicklung aus dem Holzstil ist das monumentalste
Beispiel. Aber an ihm gerade ist deutlich, dass die
Werkform nur den Anstoss bedeutet; das eigent-
liche Wesen z. B. der Triglyphe entspringt schliess-
lich ihrer freien künstlerischen Gestaltung als eines
dienenden Gliedes in einem Gesamtrhythmus. Die
Werkform muss überwunden werden durch die
reine Kunstform. Wo dies nicht ganz der Fall ist,
wie bei den faliskischen Bechern, bleibt ein un-
gelöster Rest. Wo es im höchsten Sinne geschieht,
wie in den attischen Amphoren, sind die Formen
vom Material unabhängig, sind absolut, sind Geist.
Ist die Überlegenheit der reinen Kunstform über
die Werkform eingetreten, so kann die Töpferei
z. B. in der Nachbildung von Metallgefässen —
hellenistische Hydria, megarischer Becher — mit
den Metallformen spielen ohne sich selbst ungetreu
zu werden. Werkform bleibt für eine reife Kunst
nur noch Ferment und Anregung. Kunst als geist-
geboren steigt aus dem Handwerk als der erd-
geborenen Wurzel empor.

Die Kunstform ist an sich Schmuckform, so-
bald sie Zweck- und Werkform in sich aufgenommen
und zu einer gesättigten Harmonie geführt hat,
wie wiederum in den attischen Gefässen, den
Amphoren und der Schale. Des Oberflächen-
schmuckes kann sie dann entraten. Nimmt sie ihn

als Steigerung hinzu, so muss er aus ihr selbst ge-
boren sein, ihr Wesen noch einmal in über-
einstimmenden Harmonien spiegeln — nach
griechischer Anschauung. Jene wesensandere
Lösung aber, wie sie die altkretische Kunst in
primitiver, die japanische in raffinierter Gestaltung
kennt — Ignorierung der Tektonik durch anders-
geartete freie Rhythmik des Schmucks — ist den
Griechen fremd geblieben und in dieser Be-
schränkung liegt wieder ihre Grösse.

Sobald der Schmuckgedanke allein herrscht —
apulisches Prachtgefäss — ist die Höhe über-
schritten. Solche Dinge sind von geringerer Er-
fülltheit, darum auch von schwächerer Nach-
wirkung. Es ist das Ausklingen.

Die Skala ist also diese. Die Zweckform wird
aus der Notwendigkeit geboren. Sie holt sich die
Werkform aus dem Wesen des Stoffes hinzu als
ihre Dienerin. Aber sie selbst wird überwunden
und aufgenommen durch das Höhere, Geistig-
Freie, die Kunstform. Auch wenn diese durchaus
noch einem Zwecke dient, ist sie gleichwohl — ein
Paradoxon — zweckbefreit. Denn sie lebt auch
ohne Erfüllung des Zwecks, aus dem sie entstand,
sie ist Gesetz in sich. Ein griechisches Wort um-
fasst alle drei Stufen: xoojjlsvv bedeutet ordnen einer
Vielheit, einer Masse zum Zweck, z. B. ein Heer
oder die Bürgerschaft; es bedeutet ordnen einer
gedanklichen Einheit nach ihrer technischen
Wesensart, z. B. das Mahl oder die Geschäfte;
es heisst endlich und vornehmlich ordnen zum
Wohlgefallen, d. i. schmücken. Darum nennt zuerst
Pythagoras diesinnvolleundwunderbareOrdnung des
Weltalls den Kosmos. Auch das Werk von Menschen-
hand, das diese drei Stufen erfüllt, ist ein Kosmos.
 
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