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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 29.1931

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Heft 6
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Dale, Maud: Amerika und Europa
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https://doi.org/10.11588/diglit.7610#0270

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PABLO PICASSO, TASCHENSPIELER UND STILLEBEN

SAMMLUNG C1IESTER DALE, NEW YORK. MIT ERLAUBNIS DER D.D.A.

Stiefel wohnte und so viel Kinder hatte, daß sie
nicht wußte, wohin damit". Ging eins verloren, ver-
irrte es sich oder wurde es gestohlen, so pflegte
sie sich damit zu trösten, daß das wohl das aller-
beste sei und „eine gute Gelegenheit, das Zeug los-
zuwerden".

Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts gab es
keine vier Millionen Einwohner in dem heutigen
Gebiete der Vereinigten Staaten, und Vermögen von
Bedeutung waren nicht vorhanden. Heute sind es
hundertundzwanzig Millionen Einwohner, die größ-
ten Vermögen der Welt befinden sich hier und mit
großem Interesse blickt Europa zu den Vereinigten
Staaten hinüber.

Ist Europas Wunsch, uns zu verstehen, wirklich
ernst gemeint, so ist Voraussetzung, daß man dar-
über unterrichtet sei, wie das Verhältnis Amerikas
zu den Künsten während des neunzehnten Jahr-
hunderts gewesen ist.

Sind die Augen der Welt heute auf Amerika
gerichtet, so waren sie es vor dem Kriege auf Eng-
land. Vergleiche sind manchmal nicht schmeichel-

haft, aber sie führen oft zum Verständnis, und ein
Vergleich der Kulturgesinnung Englands und Ame-
rikas vor dem Kriege ist vielleicht der schnellste und
einfachste Weg, um zum Verständnis der Vereinig-
ten Staaten von heute zu gelangen.

Von 1590 bis 1790 wurde der Teil von Amerika,
der heute die Vereinigten Staaten ausmacht, von
Spaniern, Holländern, Franzosen, Deutschen, Schwe-
den und Engländern kolonisiert. Die Vermischung
all dieser Rassen verhinderte das Aufkommen eng-
herziger und provinzieller Gesinnung und verlieh
den Bewohnern große geistige Elastizität. Hierin
liegt das Geheimnis begründet, daß es möglich war,
die Millionen und aber Millionen aufzusaugen, die
während des neunzehnten Jahrhunderts in das Land
fluteten.

Geistige Elastizität und Weltbürgertum aber sind
zwei Dinge, denen der Engländer stets aus dem
Wege gegangen ist, ja, die er sogar verachtet hat.
Die Engländer haben stets ihre Stärke in der Be-
wahrung ihres insularen Charakters gesucht. Die-
ses trat im neunzehnten Jahrhundert besonders deut-
lich hervor, also in der Zeit, als England das Zen-
trum der Welt auf dem Geldmarkt und im Handel
war: das reichste Land der Erde. In dieser Zeit aber
hat England es in kultureller Beziehung zu nichts
Besonderem gebracht.

Englands Lieblingsschriftsteller waren in dieser
Periode Byron, Dickens, Thakery und Tennyson,
also Männer, die nichts eigentlich zur Entwicklung
der Literatur beigetragen haben. Auch große Musi-
ker gab es in England im neunzehnten Jahrhun-
dert nicht; trotz des Reichtums konnte sich die
englische Oper nicht mit der Deutschlands, Frank-
reichs oder der Vereinigten Staaten messen. Mit
dem achtzehnten Jahrhundert ist endlich auch die
englische Kunst zu Grabe gegangen.

Von 1660 bis 1776 war Englands politischer Ein-
fluß in Amerika ausschlaggebend; der englische Ge-
schmack war demzufolge bei uns der herrschende
auf dem Gebiete der Architektur, der Herstellung
des Mobiliars und der Silberwaren und der Ma-
lerei. Viele geschickte Künstler und Handwerker
kamen zwar auch aus anderen Ländern, aber sie
hatten Aufträge für Häuser in englischem Ge-
schmack auszuführen. Zum Glück für die Vereinig-
ten Staaten kann man sich über den englischen Ge-
schmack des achtzehnten Jahrhunderts nicht beklagen
es war der Schwanengesang, bevor die Scheuß-

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