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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 29.1931

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Heft 10
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Schmidt, Eugen: Zeichnungen des Stellmachers Karl Müller
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https://doi.org/10.11588/diglit.7610#0412

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ZEICHNUNGEN DES STELLMACHERS KARL MULLER

VON

EUGEN SCHMIDT

Nun sehe ich deutlich das Schwere, vielleicht
Unmögliche, über ein Phänomen wie diesen
einfachen Handwerker Karl Müller zu schreiben,
der vielleicht mit mehr Recht, als er wußte, von
sich als einem „vielfältigen Menschen" sprach. Denn
er war kein Künstler, dessen Begabung früh oder
spät erkannt, durch diese und jene Schulen und
Irrwege gehemmt, gefördert, endlich sich Beachtung
erzwang. Seine Schulen, seine Irrwege lagen nur
in ihm selbst, und außer mir, dem Arzt, kennen sein
Werk vielleicht ein Dutzend Menschen. Sonst nie-
mand. Aber diese wenigen Menschen waren ergriffen.

Dieses ist als äußeres von ihm zu berichten:
Er lebte in einem kleinen Dorf Süddeutschlands
und wurde nach seiner Schulzeit Handwerker, wie
es sein Vater gewesen war. Stellmacher. Man hatte
ihn nicht sehr gerne. Er trank viel, war leicht reiz-
bar und suchte Händel. Daß er „Sozialdemokrat"

Anmerkung der Redaktion: Der Verfasser ist Arzt
in Baden-Kaden.

war, bescheinigte in seiner Heimatgemeinde nur
die Tatsache, daß er irgendwie anders war und sein
wollte als die anderen. Trotz frommer und strenger
Erziehung. Möglich, daß eine „Gehirnentzündung"
des zweijährigen Kindes, als deren Folge ein Klump-
fuß blieb, die merkwürdige Gestaltung dieser Per-
sönlichkeit beeinflußt hatte. Wir wissen es nicht.

Als Karl Müller fünfunddreißig Jahre alt war,
wurde er geisteskrank. Von einem Tag auf den
anderen. Erregt, gewalttätig, so daß er in der Zwangs-
jacke und gefesselt ins Krankenhaus und in die
Heilanstalt gebracht werden mußte.

Uber zwei Jahre war er in der Heilanstalt. Meistens
erregt, mit Sinnestäuschungen: „Wenn ich an den
Herrgott denke, ist es mir leicht, wenn ich nur
einen alten Mann sehe, ist mir's leichter, wenn ich
aber so verlebte, gelbe viele Mädchengesichter sehe,
werde ich traurig—". Er saß in seinem Bett, auf-
recht, mit stierem Blick, schrie und johlte. „Ist der
Mensch ein Wurm oder nicht? Antwort: Ja oder

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