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Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe — 29.1931

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Heft 11
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Tietze, Hans: Ein Hellenistischer Bronzeknabe
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https://doi.org/10.11588/diglit.7610#0442

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BRONZEKNABE, HELLENISTISCH

gleichartiger Dinge, die schon im Altertum zu-
sammengebracht worden ist, von einem Händler
oder Spediteur oder noch wahrscheinlicher von
einem jener unwiderstehlichen Kunstfreunde, die
von den Attaliden und römischen Statthaltern bis
zu den Lord Elgins des neunzehnten Jahrhunderts
das Vaterland der klassischen Kunst so ausgiebig
ausgeplündert haben. Daraus erklärt sich das Bei-
sammensein von Arbeiten verschiedenen Stils und
Alters; das schafft auch die Meinungsverschieden-
heiten darüber, wie weit einzelne der gefundenen
Fragmente einmal enger zusammengehörten.
Auch der Bronzeknabe, von dem hier die Rede

ist, gehört zu den umstrittenen Stücken. Sti-
listisch ordnet er sich zwar einwandfrei ein,
eine hellenistische Arbeit, deren Freiheit die
Ausweitung und Auflösung einer großen
Tradition widerspiegelt. Auch daß er zu
Pferd saß, und zwar auf dem Pferd, dessen
größerer Teil gleichzeitig mit ihm aus dem
Meer gehoben wurde, wird durch das
Stückchen seines Gewandes, das auf dem
Pferderücken zu sehen ist, zumindest sehr
wahrscheinlich gemacht. Aber sind Roß
und Reiter dennoch zusammen entstanden ?
Ist jene vermutliche körperliche Verbindung
auch ein Beweis stilistischer und zeitlicher
Einheit? Die Ansichten der Archäologen
gehen weit auseinander; die einen halten
das Pferd für ein Werk des fünften Jahr-
hunderts, dem dann im zweiten der neue
Reiter aufgesetzt worden wäre, den an-
deren scheint der archaische Stil des Pfer-
des jene retrospektive Gesinnung zu ver-
raten, die mit der Entstehungszeit des Rei-
ters ganz gut vereinbar wäre.

Die Frage, die auch für die Rekonstruk-
tion und Aufstellung der Gruppe bedeut-
sam ist, wird vielleicht durch das Auf-
tauchen weiterer Fragmente, nach denen
man zu fischen beabsichtigt, entschei-
dend gefördert werden. Dem nichtarchäo-
logisch eingestellten Kunstfreund, der
seine Zweifel an einer frühen Entste-
hung des Pferdes so wenig unterdrük-
ken kann wie die über eine stilistische
— nicht zeitliche — Zusammengehörigkeit der bei-
den Teile, wird ihre Ungelöstheit die helle Freude
an dieser köstlichen Figur nicht beeinträchtigen,
die die gefährliche Möglichkeit breitester Popularität
in sich trägt. Dieser Bronzejunge ist in seiner
naturnahen Frische faszinierend; das ganze ererbte
Können großen Stils ist in ihm verwertet, den
Eindruck momentaner Lebendigkeit zu erzielen.
Die Grazie der Silhouette, fernab jeder klassischen
Gebundenheit, und die von tieferem Wissen um
die Dinge erfüllte Beseeltheit des Ausdrucks sind die
melancholische Frucht voller künstlerischer Bewußt-
heit; süße Säfte sind bereit, ins Überreife überzugehen.

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