NEUES VON GESTERN
AUSSTELLUNG IN I)ER STÄDTISCHEN KUNSTHALLE MANNHEIM
VON
KURT MARTIN
Tausende von Bildausschnitten aus illustrierten Zeit-
schriften und Witzblättern sind unter dem Schlagwort:
Neues von Gestern ausstellungsmäßig zusammengefaßt. Die
Zeit von 1830 —1914 wird so in einer Geschichte der Re-
portage und Karikatur lebendig. Das Verdienst der Aus-
stellung liegt in der Gruppierung, denn die politischen, wirt-
schaftlichen, technischen, gesellschaftlichen und künstleri-
schen Aktualitäten jeder Zeit sind geordnet worden, so daß
aus dem Beieinander ein geschlossenes Zeitbild entsteht wie
es der Tag und die Mode gesehen haben. Von den Gescheh-
nissen ist mit Ausnahme von ein paar historischen Fakten
und ein paar Problemen nichts geblieben. Die Bilder haben
keine Beziehung mehr, keine Gegenwart wie jedes Kunst-
werk, sie sind Schemen geworden, die um so unverhüllter
die psychische Einstellung entschleiern. Es liegt an diesem
Leersein, daß man das Vergangene amüsant empfindet. Mir
war das Unheimliche stärker, das die Ausstellung aus der
Schutthalde eines Jahrhunderts aufgelesen und zum Problem
gestaltet hat. Der „gute Geschmack", wie ihn der Begriff
Gartenlaube umschreibt, ist als geschichtliches Dokument
anschaulich gemacht und dieser Geschmacksdurchschnitt gibt
der Ausstellung ihren Reiz und ihre besondere Aktualität.
Denn das, was der anonyme Durchschnitt „schön" findet,
ist als Ausdruck unserer heutigen Gesellschaftsordnung wich-
tiger geworden als je im neunzehnten Jahrhundert. Schade,
daß die Ausstellung nicht unter den bürgerlichen Durchschnitt
heruntergegangen ist, in die Vorstadt und Hintertreppe, in
Kolportage und Messe, denn daraus ließen sich überraschende
Dinge zeigen.
CHRONIK
LUDWIG VON HOFMANN
Am 17. August wird er siebzig Jahre alt. Das sagt der
jungen Generation nichts; der älteren sagt es aber recht
viel. Denn sie gedenkt bei dieser Nachricht der Zeiten, als
sie selbst noch jung war und in Ludwig von Hofmann einen
Fahnenschwinger sah. Für ein oder zwei Jahrzehnte wußte
dieser Maler eines naturalisierten und modern belebten Idea-
lismus seine Zeit zu packen. Es war damals etwas wie ein
weicherer, graziöserer und lyrischer Marees, ein Stilist, der
in einigen Zügen den „Stil der Zeit" realisierte. Seine Bilder
zündeten in allen Ausstellungen. Das ist nun mehr als dreißig
Jahre her. Wer aber einmal die Menschen schön bewegt
hat, dessen Name soll nicht vergessen sein. Genossenem
Glück ziemt Dankbarkeit. K. Sch.
ALFRED GRENANDER
ist im achtundsechzigsten Lebensjahre gestorben. Der Schwede
war in Berlin ganz akklimatisiert. Am bekanntesten ist
der Messelschüler geworden als Architekt der Hochbahn-
gesellschaft. Seine Bauten vieler Untergrund-Bahnhöfe —
zuletzt noch auf der Strecke zur Krummen Lanke — sind in
ihrer Art musterhaft. Besonders gut wirkt darin die Schei-
dung und Verbindung vom Stein, Eisen und Holz. Von den
Jahrzehnten des Jugendstils bis heute hat Grenander immer
teilgenommen an den lebendigsten Interessen der Zeit; die
Gestaltung des Architekten aber war stets besonnen und
beruhigt durch Tradition. Wäre alles so gut wie das, was
Grenander in Großen und Kleinen gebaut hat, so stünde es
besser um das Stadtbild Berlins. K. Sch.
JEAN LOUIS FORAINt
Fast achtzigjährig ist der bekannte, in Paris populäre Zeich-
ner und Karikaturist Forain gestorben. Er begann, erregt
von den Radierungen Goyas und fortgerissen vom Beispiel
Manets und Degas', auf der Straße zu zeichnen und wurde
dann Mitarbeiter des „Monde Parisien" der „Revue II-
lustree", des „Journal Amüsant", der „Vie Parisienne", des
„Rire", des „Figaro", des „Echo de Paris" und anderer ver-
breiteter Zeitungen und Zeitschriften. Seine Zeichnung ist
aufrichtig, aber nicht frei von Zweideutigkeit und Pikante-
rie; sein andeutender Stil, der immer viel Papierton sehen
läßt, täuscht eine nicht immer ganz echte Sicherheit vor;
er ist in Wahrheit zaghaft und beherrscht die Form nur
ungefähr. Doch verstand Forain, sein Tasten klug zu ver-
bergen. Bis in die Mitte der achtziger Jahre widmete er sich
der Radierung, dann griff er zur Lithographie, die damals
wieder in Aufnahme kam. Um 1910 begann er von neuem
zu radieren. Die Stoffe bot das Pariser Leben dar. Auf den
Spuren Daumiers versuchte er sich auch in Gerichtssariren.
Zuletzt verirrte er sich in biblischen Szenen. K. Sch.
434
AUSSTELLUNG IN I)ER STÄDTISCHEN KUNSTHALLE MANNHEIM
VON
KURT MARTIN
Tausende von Bildausschnitten aus illustrierten Zeit-
schriften und Witzblättern sind unter dem Schlagwort:
Neues von Gestern ausstellungsmäßig zusammengefaßt. Die
Zeit von 1830 —1914 wird so in einer Geschichte der Re-
portage und Karikatur lebendig. Das Verdienst der Aus-
stellung liegt in der Gruppierung, denn die politischen, wirt-
schaftlichen, technischen, gesellschaftlichen und künstleri-
schen Aktualitäten jeder Zeit sind geordnet worden, so daß
aus dem Beieinander ein geschlossenes Zeitbild entsteht wie
es der Tag und die Mode gesehen haben. Von den Gescheh-
nissen ist mit Ausnahme von ein paar historischen Fakten
und ein paar Problemen nichts geblieben. Die Bilder haben
keine Beziehung mehr, keine Gegenwart wie jedes Kunst-
werk, sie sind Schemen geworden, die um so unverhüllter
die psychische Einstellung entschleiern. Es liegt an diesem
Leersein, daß man das Vergangene amüsant empfindet. Mir
war das Unheimliche stärker, das die Ausstellung aus der
Schutthalde eines Jahrhunderts aufgelesen und zum Problem
gestaltet hat. Der „gute Geschmack", wie ihn der Begriff
Gartenlaube umschreibt, ist als geschichtliches Dokument
anschaulich gemacht und dieser Geschmacksdurchschnitt gibt
der Ausstellung ihren Reiz und ihre besondere Aktualität.
Denn das, was der anonyme Durchschnitt „schön" findet,
ist als Ausdruck unserer heutigen Gesellschaftsordnung wich-
tiger geworden als je im neunzehnten Jahrhundert. Schade,
daß die Ausstellung nicht unter den bürgerlichen Durchschnitt
heruntergegangen ist, in die Vorstadt und Hintertreppe, in
Kolportage und Messe, denn daraus ließen sich überraschende
Dinge zeigen.
CHRONIK
LUDWIG VON HOFMANN
Am 17. August wird er siebzig Jahre alt. Das sagt der
jungen Generation nichts; der älteren sagt es aber recht
viel. Denn sie gedenkt bei dieser Nachricht der Zeiten, als
sie selbst noch jung war und in Ludwig von Hofmann einen
Fahnenschwinger sah. Für ein oder zwei Jahrzehnte wußte
dieser Maler eines naturalisierten und modern belebten Idea-
lismus seine Zeit zu packen. Es war damals etwas wie ein
weicherer, graziöserer und lyrischer Marees, ein Stilist, der
in einigen Zügen den „Stil der Zeit" realisierte. Seine Bilder
zündeten in allen Ausstellungen. Das ist nun mehr als dreißig
Jahre her. Wer aber einmal die Menschen schön bewegt
hat, dessen Name soll nicht vergessen sein. Genossenem
Glück ziemt Dankbarkeit. K. Sch.
ALFRED GRENANDER
ist im achtundsechzigsten Lebensjahre gestorben. Der Schwede
war in Berlin ganz akklimatisiert. Am bekanntesten ist
der Messelschüler geworden als Architekt der Hochbahn-
gesellschaft. Seine Bauten vieler Untergrund-Bahnhöfe —
zuletzt noch auf der Strecke zur Krummen Lanke — sind in
ihrer Art musterhaft. Besonders gut wirkt darin die Schei-
dung und Verbindung vom Stein, Eisen und Holz. Von den
Jahrzehnten des Jugendstils bis heute hat Grenander immer
teilgenommen an den lebendigsten Interessen der Zeit; die
Gestaltung des Architekten aber war stets besonnen und
beruhigt durch Tradition. Wäre alles so gut wie das, was
Grenander in Großen und Kleinen gebaut hat, so stünde es
besser um das Stadtbild Berlins. K. Sch.
JEAN LOUIS FORAINt
Fast achtzigjährig ist der bekannte, in Paris populäre Zeich-
ner und Karikaturist Forain gestorben. Er begann, erregt
von den Radierungen Goyas und fortgerissen vom Beispiel
Manets und Degas', auf der Straße zu zeichnen und wurde
dann Mitarbeiter des „Monde Parisien" der „Revue II-
lustree", des „Journal Amüsant", der „Vie Parisienne", des
„Rire", des „Figaro", des „Echo de Paris" und anderer ver-
breiteter Zeitungen und Zeitschriften. Seine Zeichnung ist
aufrichtig, aber nicht frei von Zweideutigkeit und Pikante-
rie; sein andeutender Stil, der immer viel Papierton sehen
läßt, täuscht eine nicht immer ganz echte Sicherheit vor;
er ist in Wahrheit zaghaft und beherrscht die Form nur
ungefähr. Doch verstand Forain, sein Tasten klug zu ver-
bergen. Bis in die Mitte der achtziger Jahre widmete er sich
der Radierung, dann griff er zur Lithographie, die damals
wieder in Aufnahme kam. Um 1910 begann er von neuem
zu radieren. Die Stoffe bot das Pariser Leben dar. Auf den
Spuren Daumiers versuchte er sich auch in Gerichtssariren.
Zuletzt verirrte er sich in biblischen Szenen. K. Sch.
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