die physische Gestalt seiner Rasse. Wir kennen
ihn von den drei Potraits, die van Gogh zu ver-
schiedenen Zeiten von ihm gemalt hat.
Das erste stammt von 1887. Er war schon
61 Jahre alt, aber besaß noch immer die kräftige
Konstitution der Menschen der Nordküste. Er hatte
noch immer die offene Stirn einer Kämpfernatur.
Er hatte die breite Nase, die dicken Lippen des
großen Genießers. Vincent hatte ihn gemalt, wie
er ging und stand, in seiner Arbeitskleidung, mit
seiner grünen Schürze. Aber der Kragen mit sei-
nen spitzen Ecken, die Lavaliierekrawatte zeugen
von einer gewissen Gesuchtheit des Anzugs, einer
Neigung zum Künstlertum, die zweifellos aus
dem Milieu herstammte, in dem er lebte.
Die beiden anderen Portraits sind später ent-
standen. Van Gogh malte sie, als er den Zauber
des japanischen Farbenholzschnitts entdeckt hatte;
er gibt einen, als amüsanten Kontrast, der schäbigen
und dicken Gestalt des Farbenkünstlers, zum Hinter-
grund. Hier zeigt er nicht mehr jenes etwas roman-
tische Gehaben des ersten Portraits. Er sitzt, mit ge-
falteten Händen, in der geduldigen Haltung eines
Mannes, der sich nicht mehr an den Kämpfen des
Tages beteiligen will.
Am z8. Juni 1825 zu Phedan (Cotes du nord)
geboren, war Julien Tanguy bis zum Alter von
29 Jahren Gipsformer, dann wurde er Angestellter
der Westeisenbahn und ließ sich in Saint Brieux
nieder, wo er sich mit einer erheblich älteren Frau
verheiratete. Man weiß nicht, aus welchem Grunde
sie 1860 nach Paris kamen. Auf jeden Fall war
es keine amtliche Versetzung, denn Tanguy wurde
sofort Farbenreiber in der Firma Edouard. Diese
Farbenhandlung, die den bedeutendsten Künstlern
der Zeit die Farben lieferte, befand sich in der rue
Clauzel. Tanguy hatte die Stellung als Notbehelf
angenommen. Als er kurz darauf in der rue Cor-
tot No 10 eine Portierstellung gefunden hatte,
wurde er nicht reicher, aber er war wenigstens
materiell gesichert. Er fing nun für seine eigene
Rechnung an, Farben zu reiben und ging in die
Ateliers, um sie den Künstlern anzubieten. Er be-
schränkte sich nicht auf Paris, sondern besuchte
auch die Vorstädte Argenteuil und sogar Barbizon.
Auf diesen Streifzügen traf er die jungen Maler,
die im Freien „am Motiv" arbeiteten, wie man es
damals nannte, er traf Monet, Renoir, Cezanne,
Pissarro.
Eine gewisse Kameradschaft erwuchs nun zwi-
schen dem Manne, der die Farben fabrizierte, und
den anderen, die Kunstwerke damit machten —
eine Kameradschaft, die standhielt bis zum Ende und
die zuweilen die Künstler dem alten Tanguy zu
Dank verpflichtete.
Wir wissen nicht, was während des Krieges aus
unserem Freunde wurde. Da er Nationalgardist und
45 Jahre alt war, mußte er in Paris bleiben und
wahrscheinlich die Gefahren und Entbehrungen
der Belagerung erdulden. Aber in diesem friedli-
chen Bürger schlummerte ein großer Revolutionär,
den die Kommune zum Bewußtsein weckte. Die
Wandlung erfolgte jäh, ohne daß man die lang-
same unterirdische Vorbereitung aufzeigen könnte.
Dieser herzensgute Mensch war gewiß angeekelt
durch die Mißwirtschaft der Kaiserzeit, durch das
Elend, das er in den Vierteln, die er bewohnte, vor
sich sah; so glaubte er, daß die Herrschaft der Ge-
rechtigkeit und der Güte gekommen sei.
Seine ehemalige Stellung als Nationalgardist
brachte ihn in eine üble Lage. Als die vergäng-
liche Herrschaft der Kommune zu Ende ging, war
er eines Tages auf einem friedlichen Spaziergang,
allerdings eine Flinte im Arme, als er sich plötz-
lich einer Bande Königstreuer gegenübersah. Er
warf seine Waffe von sich und flüchtete in ein
nahe gelegenes Haus. Aber er wurde sehr schnell
gefaßt, ausgewiesen und nach den Pontons von
Brest verschickt.
Er wäre ein verlorener Mann gewesen, wenn
nicht seine alten Pariser Freunde sich seiner ange-
nommen hätten. Der Maler Felix Jobbe-Duval, der
seit 1871 Magistratsrat im Quartier Necker war,
nutzte seinen Einfluß, und es gelang ihm, 1873
die Begnadigung Julien Tanguys zu erwirken.
Noch blieb ihm für einige Zeit der Aufenthalt
in Paris untersagt, er lebte bei seinem Bruder in
Saint Brieux und kehrte erst 1875 endgültig zu-
rück.
Er hatte kein Amt und keine Behausung mehr.
Der Hauswirt in der rue Cortot dachte nicht dar-
an, sein Eigentum einem ehemaligen Kommunard
zur Bewachung anzuvertrauen. So mietete Tanguy
ein kleines Haus No 11 in der rue Cortot und fing
wieder an, Farben zu reiben. Das Geschäft ging
schlecht. Die Maler waren in alle vier Winde ver-
streut. Cezanne war nach Aix verzogen. Und wenn
sie selbst nach Paris zurückgekehrt wären, hätten
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ihn von den drei Potraits, die van Gogh zu ver-
schiedenen Zeiten von ihm gemalt hat.
Das erste stammt von 1887. Er war schon
61 Jahre alt, aber besaß noch immer die kräftige
Konstitution der Menschen der Nordküste. Er hatte
noch immer die offene Stirn einer Kämpfernatur.
Er hatte die breite Nase, die dicken Lippen des
großen Genießers. Vincent hatte ihn gemalt, wie
er ging und stand, in seiner Arbeitskleidung, mit
seiner grünen Schürze. Aber der Kragen mit sei-
nen spitzen Ecken, die Lavaliierekrawatte zeugen
von einer gewissen Gesuchtheit des Anzugs, einer
Neigung zum Künstlertum, die zweifellos aus
dem Milieu herstammte, in dem er lebte.
Die beiden anderen Portraits sind später ent-
standen. Van Gogh malte sie, als er den Zauber
des japanischen Farbenholzschnitts entdeckt hatte;
er gibt einen, als amüsanten Kontrast, der schäbigen
und dicken Gestalt des Farbenkünstlers, zum Hinter-
grund. Hier zeigt er nicht mehr jenes etwas roman-
tische Gehaben des ersten Portraits. Er sitzt, mit ge-
falteten Händen, in der geduldigen Haltung eines
Mannes, der sich nicht mehr an den Kämpfen des
Tages beteiligen will.
Am z8. Juni 1825 zu Phedan (Cotes du nord)
geboren, war Julien Tanguy bis zum Alter von
29 Jahren Gipsformer, dann wurde er Angestellter
der Westeisenbahn und ließ sich in Saint Brieux
nieder, wo er sich mit einer erheblich älteren Frau
verheiratete. Man weiß nicht, aus welchem Grunde
sie 1860 nach Paris kamen. Auf jeden Fall war
es keine amtliche Versetzung, denn Tanguy wurde
sofort Farbenreiber in der Firma Edouard. Diese
Farbenhandlung, die den bedeutendsten Künstlern
der Zeit die Farben lieferte, befand sich in der rue
Clauzel. Tanguy hatte die Stellung als Notbehelf
angenommen. Als er kurz darauf in der rue Cor-
tot No 10 eine Portierstellung gefunden hatte,
wurde er nicht reicher, aber er war wenigstens
materiell gesichert. Er fing nun für seine eigene
Rechnung an, Farben zu reiben und ging in die
Ateliers, um sie den Künstlern anzubieten. Er be-
schränkte sich nicht auf Paris, sondern besuchte
auch die Vorstädte Argenteuil und sogar Barbizon.
Auf diesen Streifzügen traf er die jungen Maler,
die im Freien „am Motiv" arbeiteten, wie man es
damals nannte, er traf Monet, Renoir, Cezanne,
Pissarro.
Eine gewisse Kameradschaft erwuchs nun zwi-
schen dem Manne, der die Farben fabrizierte, und
den anderen, die Kunstwerke damit machten —
eine Kameradschaft, die standhielt bis zum Ende und
die zuweilen die Künstler dem alten Tanguy zu
Dank verpflichtete.
Wir wissen nicht, was während des Krieges aus
unserem Freunde wurde. Da er Nationalgardist und
45 Jahre alt war, mußte er in Paris bleiben und
wahrscheinlich die Gefahren und Entbehrungen
der Belagerung erdulden. Aber in diesem friedli-
chen Bürger schlummerte ein großer Revolutionär,
den die Kommune zum Bewußtsein weckte. Die
Wandlung erfolgte jäh, ohne daß man die lang-
same unterirdische Vorbereitung aufzeigen könnte.
Dieser herzensgute Mensch war gewiß angeekelt
durch die Mißwirtschaft der Kaiserzeit, durch das
Elend, das er in den Vierteln, die er bewohnte, vor
sich sah; so glaubte er, daß die Herrschaft der Ge-
rechtigkeit und der Güte gekommen sei.
Seine ehemalige Stellung als Nationalgardist
brachte ihn in eine üble Lage. Als die vergäng-
liche Herrschaft der Kommune zu Ende ging, war
er eines Tages auf einem friedlichen Spaziergang,
allerdings eine Flinte im Arme, als er sich plötz-
lich einer Bande Königstreuer gegenübersah. Er
warf seine Waffe von sich und flüchtete in ein
nahe gelegenes Haus. Aber er wurde sehr schnell
gefaßt, ausgewiesen und nach den Pontons von
Brest verschickt.
Er wäre ein verlorener Mann gewesen, wenn
nicht seine alten Pariser Freunde sich seiner ange-
nommen hätten. Der Maler Felix Jobbe-Duval, der
seit 1871 Magistratsrat im Quartier Necker war,
nutzte seinen Einfluß, und es gelang ihm, 1873
die Begnadigung Julien Tanguys zu erwirken.
Noch blieb ihm für einige Zeit der Aufenthalt
in Paris untersagt, er lebte bei seinem Bruder in
Saint Brieux und kehrte erst 1875 endgültig zu-
rück.
Er hatte kein Amt und keine Behausung mehr.
Der Hauswirt in der rue Cortot dachte nicht dar-
an, sein Eigentum einem ehemaligen Kommunard
zur Bewachung anzuvertrauen. So mietete Tanguy
ein kleines Haus No 11 in der rue Cortot und fing
wieder an, Farben zu reiben. Das Geschäft ging
schlecht. Die Maler waren in alle vier Winde ver-
streut. Cezanne war nach Aix verzogen. Und wenn
sie selbst nach Paris zurückgekehrt wären, hätten
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