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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 1.1907

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Heft VII (Juli 1907)
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Hahn, Gustav: Phantasiezeichnen
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https://doi.org/10.11588/diglit.31624#0095

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stehen! Das Schöne kommt naturgemäss nach dem Unentbehrlichen. Unentbehrlich
aber ist das Studium der Natur selbst. Und dazu reichen 2 Stunden wöchentlich
gerade knapp aus. Dabei zieht sich manche Aufgabe durch 2 oder 3 Doppel-
stunden (zugleich ebenso viele Wochen) hin, und man möchte sie durch Einstreuung
einer andern Aufgabe nicht noch länger hinziehen. Andere stehen in innerem
Zusammenhang (z. B. Darstellung von Naturformen und deren Verwertung). Auch
da ist es nicht ratsam, dazwischenzugreifen, wenn man die Schüler im besten Fall
nur einmal in der Woche sieht. Anders, wo noch eine 3. Stunde zur Verfügung
steht wie bei uns in Klasse III. Diese pflege ich fast regelmässig dem Gedächtnis-
und Phantasiezeichnen zu widmen. In Klasse IV dagegen, wo nur 2 Stunden
zugemessen sind, mussten derartige Uebungen stets zurücktreten und konnten dann
erst wieder in V mit ihren 3 Wochenstunden umfangreicher einsetzen. Die Lücke
von IV war nicht zu verkennen; immerhin liess sich der nie ganz zerrissene Faden
weiter spinnen und gegen Schluss von Klasse VI (ebenfalls 3 Stunden) ein Auf-
steigen verfolgen. Jetzt ist auch in V die 3. Stunde gefallen und eben

Abbildung 1.


damit die Möglichkeit, das Gedächtnis- und Phantasiezeichnen in
dauernd fortschreitender Weise zu entwickeln; denn die jetzt zwei-
jährige Uebungslücke ist nicht wieder zu überbrücken. Daneben noch der
Intellektualismus und „Memoriermaterialismus“ im übrigen Unterricht — da braucht
man sich wahrlich nicht zu wundern, wenn die Phantasie zurückgeht! Da gehen
selbst noch andere Kräfte zurück! Ich hatte einst einen ganz gut veranlagten
Jungen. Da wurde er einige Wochen vor der grossen Vakanz krank. Tag und
Nacht musste er dann während der Ferien arbeiten, um die Versetzungsprüfung
nachmachen zu können, und als ich ihn nach einem Vierteljahr wieder erhielt, war
sein Auge geliefert: sein bis dahin so zuverlässiges Beobachtungsvermögen war
nahezu dahin; er musste wieder ganz vorne anfangen, sehen zu lernen. Alljährlich
mache ich ferner in Klasse VI die Erfahrung, dass im letzten Vierteljahr die
Schüler trotz besten Willens im Zeichnen allgemein zurückkommen. Das „Einjährige“,
vor dem sie stehen, ist für die meisten die letzte Kraftleistung in der Schule. Bis in
die späte Mitternacht hocken viele Jungen über ihren Büchern. Und wenn morgens
das Auge sich öffnet, so fällt der Blick wieder auf Bücher, Bücher, Bücher. Und
da sollen sie die Natur noch beobachten können!? Es ist eine alte Erfahrung:
 
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