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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — 1.1907

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Heft VIII (August 1907)
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Fauth, Albert: Worin bestehen die Fortschritte des neuen Lehrplans?, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.31624#0104

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Damit sind wir jedoch an den Grenzen der Kunstübung in der Schule angelangt.
Weder Kunsthandwerker noch Künstler, sondern Menschen sollen gebildet werden, deren „Gefühl
für Schönheit und Gesetzmässigkeit in Natur und Kunst entwickelt ist“. Der Lehrplan für
Mädchen könnte hier zu Missverständnissen führen, wenn der Lehrer diese Grenzen
nicht kennt. „Eigene Versuche in ganz einfachen ornamentalen Anordnungen als Verzierungen
verschiedener Gebrauchsgegenstände“ erfordern bereits einen geläuterten Geschmack in
Bezug auf Stilisierung, Farbengebung, Unterordnung und Anpassung des Schmucks.
III. Der Lehrplan fordert vom Lehrer eine Vertiefung1 des Geschmacks.
Zwischen den Zeilen dürfte zu lesen sein, dass mit dem äusseiliehen, leider noch stark
verbreiteten Schönheitsbegriff — meist gleichbedeutend mit Sauberkeit und äusserer Kor-
rektheit — nicht viel anzufangen ist. Selbstverständlich wird jeder Lehrer in jedem Unter-
richtsfach auf Ordnung und Sauberkeit einen grossen Wert legen. Allein um Formen und
Farben kennen zu lernen, die den Geschmack bilden, bedarf es
Leiner Vertiefung des Schönheitsbegriffs durch eigenes Fort-
schreiten in der naturgetreuen Wiedergabe der Dinge. Das oben erwähnte
Suchen und Ringen um die Herrschaft über den Stoff wird Spuren auf dem Papier hinter-
lassen, deren gänzliche Tilgung nicht immer möglich, vielfach aber auch — in Anbetracht
der kurzen Zeit — nicht nötig ist. Der alte Satz Flinzers kann nicht oft und nicht stark
genug betont werden : „Das Ri c ht ig z eic hn en ist gegenüber dem Schönzeich-
nen an ersteStelle zu setzen.“ Das Schwergewicht bei der Beurteilung einer Zeichnung
ist somit auf das Wesen der Form zu legen. Eine Zeichnung ist schön, wenn sie von guter
Beobachtung Zeugnis ablegt. Damit ist dem überwiegenden Betonen der Handgeschick-
lichkeit, des Materials, kurz der Technik die Spitze abgebrochen. — Eine vollkommen
schöne Wiedergabe der Natur gibt es nicht; diese Einsicht schliesst aber das Streben nach
Vervollkommnung nicht aus, im Gegenteil: je weiter man kommt, umsomehr wird man
sich bemühen, umso bescheidener wird man aber auch von sich denken. Also eigene Weiter-
bildung! — mehr Skizzieren als Ausführen! Ein weiteres Mittel zur Vertiefung des Schön-
heitsbegriffs gibt uns
2. das Betrachten von Kunstwerken und N a t u r g e g e n s t ä nd e n ,
besonders das Vergleichen von Beispiel und Gegenbeispiel: die kleinste Skizze des alternden,
zitternden Rembrandt ist von einer Naturwahrheit und Einfachheit, dass sie „schöner“ ist
als viele Wandgemälde in Palästen, welche die grössten geschichtlichen Begebenheiten behan-
deln mögen, aber unwahr, umständlich, unpersönlich und phrasenhaft behandelt sind. —
Eine ehrlich beobachtete, charakteristische Schülerzeichnung kann mehr wert sein als alle
die vielen schlecht charakterisierten Vorlagen, ob sie in Wandtafelformat oder in den unzäh-
ligen alten, namentlich aber auch „modernen“ Lehrbüchern auftreten, ob sie ein- oder mehr-
farbig bedruckt oder mit geometrisch genauen Verhältnissen und Linien lithographiert sind. —
Eine andere Seite der Sache ist die Frage nach der Schönheit des zu zeichnen-
den Gegenstandes: Ein Epheublatt des Waldes, das sich mühsam, aber mit Zähigkeit
emporwindet, hat bessere, ausgeprägtere Formen als ein im üppigen Boden des Gewächs-
hauses künstlich getriebenes. Ein Blatt, das gleichmässig dem Lichte zugekehrt ist, wird
regelmässiger gebaut sein als ein seitlich belichtetes. Ein Handbeil mit leicht geschwungenem
Stil ist schöner als eines mit geometrisch-geradem Stil. Die Beeinflussung der Form durch
den Zweck tritt zugleich hervor.
Auf diese Weise, nicht durch theoretische Erörterungen wird ein Gefühl entwickelt für
das, was wir eine „gute Form“ nennen; eine solche kann also nichts Leeres sein, vielmehr der
Ausdruck irgend eines Wesens, eines Werdens, eines Seins. Schon eine Linie kann etwas
erzählen, und sei es nur eine Bewegung. Stellt ein Kunstwerk (etwa ein Gemälde) irgend
einen grossen, geschichtlichen Inhalt dar, so verlangen wir, dass der künstlerische Ausdruck
ein diesem Inhalt ebenbürtiger sei. Wer die Sprache der Formen und Farben versteht
wird aber auch ein Kunstwerk geniessen können, das wreiter nichts will als ein Stück Natur
nachbilden; — und sei es auch nur ein Blatt, er wird eine Schönheit und Gesetzmässigkeit
erkennen, die er ehedem nicht sah.
3. Man spottet vielfach noch, wenn man vom erziehenden Wert der Kunst spricht,
weil Kunst nur Schein sei. Wir müssen diesen Spott zunächst in Kauf nehmen, wenn wir
 
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