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Bund Deutscher Kunsterzieher [Hrsg.]
Kunst und Jugend — N.F. 9.1929

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Heft 4 (April 1929)
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Müller, F.: Bildhaftes Gestalten und Geschlechtsreife
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https://doi.org/10.11588/diglit.27999#0086

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79

Nach meinen Beobachtungen stellt sich diese Ent-
wicklung so dar: Schon während des Kindesalters
zeigt sich der erwachende Einflust des Verstandes
auf die bildhaften Aeußerungen. pch sage mit Ab-
sicht „Verstand" und nicht „Äernunst".) Zuerst noch
— wenigstens für den minder scharf hinsehenden Er-
wachsenen — unmerklich. Aber es ist unverkennbar,
dah schon das Kind in seinen „wagemutigen" Geskal-
tungen „denkt". Es verbessert seine Arbeiten, ver-
wirft dieses und jenes, um es anders und besser zu
machen. Dieses „Denken", geschieht gewih nicht im
Sinne des Erwachsenest, deshalb beurteilen wir das
Kind leicht falsch, wenn wir von uns aus sein Schaf-
sen als „unbefangen" und „unbekümmert" bezeich-
nen. Vom Kinde aus liegt ohne Zweifel das Be-
streben vor, in seiner Bilüsprache der Ilmwelt so viel
wie möglich zu entsprechen. Es kümmert sich zunächst
nicht darum, wie ein Erwachsener die Dinge darstellt.
(Meiß denn der Erwachsene, ob er sie „richtig" dar-
stellt?) Es lebk ja jeder in seiner Welt und diese Welt
ist ein Subjektives, sich stets Aenderndes, sie ist üer
Znhalt unseres Bewußtseins (des ganzen, also auch
des Ilnterbewußkseins). Die er Bewußkseinsinhalk
aber wächst und schwindet, ist niemals der gleiche.
Deswegen ist die Welt für das ganz kleine Kind noch
gar nicht da. Was unser Bewuhtsein nicht umfaßt,
besteht nicht für uns. Das Kind aber ist vollauf tätig,
sich die Welt zu erobern. Die Rückäutzerungen auf
die Eindrücke der Außenwelt sind sein Spieltrieb,
Tätigkeitsdrang und Gestaltungsbegehren. Denn
tätig, nachschaffend, bildend will die Welt gewon-
nen sein. 2n seiner Welt Ist das Kind durchaus wahr,
gar nicht „unbekümmert", es ist ernstlich verletzt,
wenn der Erwachsene seine Darstellungen für falsch
oder nichtig hält. Diese kindliche Welt erleidek n i ch t,
wie angenommen wird, in der Zeit der Geschlechts-
reife einen plöhlichen Bruch oder einen gefährlichen
Riß, sondern sie wird dauernd, schon während der
Kindheit, der Welt des Erwachsenen angenähert.
Wie der Borstellungsinhatt ständig wächst und mtt
ihm das Denken, aus dessen anschaulicher Grund-
lage sich langsam das logische Denken entwickelk, so
vollzieht sich allmählich die Abkehr vom Kinütum. Die
Geschlechtsreifezeit, in der von der Ratur ein Höhe-
punkt körperlicher Enkwicklung erstrebk wird, bringt
gleicherweise auch die seelischen Kräfte zu machtvoller
Entfaltung, denn Körper und Seele stehen in innig-
ster Beziehung. Unter den Seelenkräften aber ist es
gerade die Phantasie, und Zwar nicht bloß die passive,
sondern vor allem die aktive, nach Ausdruck rin-
gende, schöpferksche Phantastä, welche durch den
Reifungsvorgang am meisten gewinnt. Sie ist mit
gefühls- und antriebsmäßigen Elementen geradezu
überladen und drängt nach außen, welcher Art diese
Aeußerung auch immer sein möge. Es wäre wider-
sinnig, diese Taksache leugnen zu wollen. Menn das
Leben sich seinem Höhepunkt zuwendet und einen
Ueberfluß an Krafk hervorbringt, muß diese seelische
Potenz entsprechend zur Entfaltung kommen.

Aber diese Phantasie erscheint uns anders als die
kindliche, sie hat wie alle übrigen Seelenkräfte einen
Werdeprozeß durchgemacht. Das Denken ist reifer
geworden, das Urleil fähiger, das Wollen bestimmter.
Mit ihnen allen muß sich die schöpferische Phantasie
auseinandersehen. Das ist kein bloßes Denken, son-
dern ein Abfinden mik reifen oder reifenden Seelen-

kräften überhaupt. Auch jeht noch tauchen die Phan-
tastebilder aus dem Unterbewußtsein auf, aus -iesem
dunklen Gebiet der verdrängten Reste des „Tages-
bewußtseins", sie kommen über uns wie ein Erleidnis
und zwingen unsere Seele zu einem Ausdruck, üer
unter der Einwirkung der Gesamtheit ihrer bisher
entwickelken Kräfte zustande Kommt. Genau gesehen
ist der Borgang derselbe wie in der Kindheit, deni»
auch das Kind gestaltete schon nrit seiner Gesamt-.
persönlichkeit, öoch erscheint es uns anders, von
unserem Skandpunkt als Erwachsene gesehen. ,

Aehnlich verhält es sich mit einer weikeren Um-
formung der schöpferischen Phllntafle, -te ich als
Spezialisierung bezeichnen möchte. Sie wen-
det sich nämlich jetzk bestimmten stnlereflegebieten im
Herbartschen Sinne zu, je >nach der seelischen Ge-
samkveranlagung des Menschen. Auch das war in
der Kindheit schon im Keime vorhanden. Das Kind
hatte schon gewisse Lieblistgsthemen, -ie es immer
wieder darstellte. Doch nun ist die Reigung, seinen
bildschöpferischen Aüsdruck einem Sondergeblet zu-
zuwenden, enlschiedener geworden. Einer meiner er-
wachsenen Schüler, der selbst ein vielversprechender
Held im Faustkampf war, mochte nur noch Box-
kämpfer zeichnen. Ein anderer, Primaner, eifriges
Mitglied eines Segelsporlvereins, zeichnele aus
freiem Antrieb nur noch Segelbooke in toller Fahrt.
Ein dritter, für Leichkathletik begeistert, stellte nur
noch Speerwerfer, Kugelstoßer. .Ringer und LSufer
dar. Ein vierker, der als Primaner schon mehrere
Tennispreise gewonnen hakte, zeichnete mik Vorliebe
Tennisspieler in besonders sprechenden Skellungen.
Ein fünfter, -er später Schiffsingenieur wurde,
kannte alle Kriegsschifstypen und zeichnete fie mit
allen Elnzelheiten. Dlese Beispiele lietzen flch nach
Belieben vermehren. Immer wählen flch die erwach-
senen Schüler ein Gebiek, mit dem ste starke Erleb-
nisse verbinden, und meist flnd dann ihre bildlichen
Darstellungen überraschend gut gelungen. M' -iese
Arbeiten werden aus dem „Gedächknis" geschaffen,
also aus Üem Gesamtvorstellungsgebiek und deM leb-
hafken Gesühl, ohne vorgSnglges Naturstudtum. Das
ist besonders bemerkenswerk. BeiM Abzeichnen ver-
sagten diese Schüler oft. Es fehlte ihnen dann, wenn
schon nicht ihr „2nteressengebiel", so -och -er un-
miktelbar aus -em.Erlebnis entspringende rhykhmische
Antrieb. Was Aibot unter limsormungen der schöp-
serischen Phantaste versteht, das zelgt flch Hier berelts
in diesen Angleichungen an gewiffe herrschende Bor-.
stellungs- und Lebensgebiete, die alle seelischen KrSfte
in chren Bann zwingen. Diese seelischen Macht-
gebiete sind nichk nur in allen Menschen verschieden,
sondern fie können auch in der Einzelpersönlichkeik
wechseln. Meist leiten fle zu einem bestimmten Be-
ruf über, dem sich üann die schöpferische Phantafle
anpaßt. So verstehen wtr, mit welchem Rechk Ribok
z. B. auch von einer mathematischen Phantafle
spricht, von einer naturwiffenschaftlichen, kaufmSnni-
schen, strategischen usf. — Zuweilen sind erwachsene
Schüler der Meinung. daß sie kein bestimmtes 3n-
teressengebiet häkten. Meist werden fle sich darin
täuschen, doch kann es auch, so lange fie im Schul-
leben stehen, zutreffen. Immer aber wird auch bet
diesen Schülern, selbst wenn ihre Begabung gering
wäre, nach der Geschlechtsreife die Fähigkeit vor-
handen sein, sich bildhast auszudrücken, sofern fle flch
 
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