Anekdote hervor, die Martha A, S. Shannon (2) berich-
tet: Bunt hatte ein Bildnis ffemalt, welches Karl Schurz
überreicht werden sollte. Ein Komiteemitgii'ed kommt,
das Gemälde besichtigen, zie'ht einen Zirkel aus der
Tasch'e und eine Photographie des Modells und stellt
vergleichende Messungen zwischen Lichtbild und Ge-
mälde an. Hunt wird grob: „Mißt llir Kunstverstand
nach dem Zentimeter? Ist der Charakter eines Modells
an die Grenzen seiner Nase gebunden? Ich verzichte
auf Ihre Mes'sungen!“
Was in dieser Anekdote zum Vorschein kommt, ist
jene für die amerikanische Kunst jener Jahre ebenfalls
vollständig neue Fähigkeit, die Hunt in der Schule von
Barbizon erworben hatte, das Einzelne stets im Gesamt
zu begreifen. in seinen später erschienenen Atelierge-
sprächen („Talks on art“) tritt es immer wieder hervor,
wi’e er seine Schüler veranlaßt, zuerst das Ganze zu
fassen, das Einzelne werde dann von -selbst kommen.
In seiner amerikanischen Sprache drückt e'r sich höchst
anschäulich aus: „Eine Katze fängt keine Maus nur mit
den Tatzen. Der Schlag kommt aus der Schulter, nach-
dem sie einen Satz von den Hinterfüßen aus gemacht
hat,“ oder gedrängter: „Du kannst kein Haar an der
Katze wahrnehmen, ohne die ganze Katze vorm Auge
zu haben“. So ist er dann auch im Stande, sich: über die
engen nationalen Vorurteile seiner Landsleute vollstän-
dig weg zu setzen: „Rembrandt ist nicht nur Holländer.
(2) (Boston Days of William Morris Hunt by Martha A. S.
Shannon, Boston 1923, S. 78.
Wenn er malt ist es wie bei Shakespeare — er spricht
für die ganze Welt.“ Eine Gefahr für jeden werdenden
Künstler erschien ihm dann auch die durch Vorurteile
sterilster Art eingebürgerte Kunstkritik seines Landes:
„0, über dieses Für-das-Publikum-Arbeiten! Könnten
die Vögel Zeitungen lesen, so würden sie auf einmal alie
anders singen. Die Päpageien möchten Nachtigallen
sein und wie wäre das lächerlich!“
Was er als Maler seinem Volke gebracht hat, ist ge-
wiß bedeutsam. Bildnisse wie etwa das des Lehrers
Francis Gardner oder vor allem das des Überrichters
Lemuel Shaw (Salem, Mass.) gehören zweifellos der
Weltkunstgeschichte an; auch die großen Monumental-
gemälde für das Capitol in Albany, die dann leider zu-
grunde gingen, stehen an bemerkeuswerter Steile in der
Reihe dieser für Amerika damals ganz neun Kunstgat-
tung. Abr dies alles würde wohl heute in seinen eigenen
Augen zurückstehen gegenüber der Tatsache, daß er
den Boden bereitet hat für eine von Amerika schon
wieder zurückstrahiende nationale amerikanische
Schule, die auf dem schlechterdings für die ganze
neuere Weltkultur geltenden Grundsatz von der Mission
des Künstle'rs beruht, das Sehen der Menschen zu ver-
edeln. Der Satz, der in van Goghs künstlerischem Tun
itnmer wieder auftritt, erscheint auch bei Hunt: „Der
Künstler ist Dolmetscher der Natur. Die Menschheit
lernt erst durch das Auge des Malers die Natur zu
lieben. Leider ist unser ganzes Leben dazu da, kleine
Dinge anzusehen, und die meisten verzichten allzu gern
darauf, groß zu sehen.“
Wiüiiam Morris Hunt
Master Franc-is Gardner
Boston
Latin Sclioo!
219
tet: Bunt hatte ein Bildnis ffemalt, welches Karl Schurz
überreicht werden sollte. Ein Komiteemitgii'ed kommt,
das Gemälde besichtigen, zie'ht einen Zirkel aus der
Tasch'e und eine Photographie des Modells und stellt
vergleichende Messungen zwischen Lichtbild und Ge-
mälde an. Hunt wird grob: „Mißt llir Kunstverstand
nach dem Zentimeter? Ist der Charakter eines Modells
an die Grenzen seiner Nase gebunden? Ich verzichte
auf Ihre Mes'sungen!“
Was in dieser Anekdote zum Vorschein kommt, ist
jene für die amerikanische Kunst jener Jahre ebenfalls
vollständig neue Fähigkeit, die Hunt in der Schule von
Barbizon erworben hatte, das Einzelne stets im Gesamt
zu begreifen. in seinen später erschienenen Atelierge-
sprächen („Talks on art“) tritt es immer wieder hervor,
wi’e er seine Schüler veranlaßt, zuerst das Ganze zu
fassen, das Einzelne werde dann von -selbst kommen.
In seiner amerikanischen Sprache drückt e'r sich höchst
anschäulich aus: „Eine Katze fängt keine Maus nur mit
den Tatzen. Der Schlag kommt aus der Schulter, nach-
dem sie einen Satz von den Hinterfüßen aus gemacht
hat,“ oder gedrängter: „Du kannst kein Haar an der
Katze wahrnehmen, ohne die ganze Katze vorm Auge
zu haben“. So ist er dann auch im Stande, sich: über die
engen nationalen Vorurteile seiner Landsleute vollstän-
dig weg zu setzen: „Rembrandt ist nicht nur Holländer.
(2) (Boston Days of William Morris Hunt by Martha A. S.
Shannon, Boston 1923, S. 78.
Wenn er malt ist es wie bei Shakespeare — er spricht
für die ganze Welt.“ Eine Gefahr für jeden werdenden
Künstler erschien ihm dann auch die durch Vorurteile
sterilster Art eingebürgerte Kunstkritik seines Landes:
„0, über dieses Für-das-Publikum-Arbeiten! Könnten
die Vögel Zeitungen lesen, so würden sie auf einmal alie
anders singen. Die Päpageien möchten Nachtigallen
sein und wie wäre das lächerlich!“
Was er als Maler seinem Volke gebracht hat, ist ge-
wiß bedeutsam. Bildnisse wie etwa das des Lehrers
Francis Gardner oder vor allem das des Überrichters
Lemuel Shaw (Salem, Mass.) gehören zweifellos der
Weltkunstgeschichte an; auch die großen Monumental-
gemälde für das Capitol in Albany, die dann leider zu-
grunde gingen, stehen an bemerkeuswerter Steile in der
Reihe dieser für Amerika damals ganz neun Kunstgat-
tung. Abr dies alles würde wohl heute in seinen eigenen
Augen zurückstehen gegenüber der Tatsache, daß er
den Boden bereitet hat für eine von Amerika schon
wieder zurückstrahiende nationale amerikanische
Schule, die auf dem schlechterdings für die ganze
neuere Weltkultur geltenden Grundsatz von der Mission
des Künstle'rs beruht, das Sehen der Menschen zu ver-
edeln. Der Satz, der in van Goghs künstlerischem Tun
itnmer wieder auftritt, erscheint auch bei Hunt: „Der
Künstler ist Dolmetscher der Natur. Die Menschheit
lernt erst durch das Auge des Malers die Natur zu
lieben. Leider ist unser ganzes Leben dazu da, kleine
Dinge anzusehen, und die meisten verzichten allzu gern
darauf, groß zu sehen.“
Wiüiiam Morris Hunt
Master Franc-is Gardner
Boston
Latin Sclioo!
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