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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 5./​6.1923/​24

DOI Heft:
1./2. Juniheft
DOI Artikel:
Grautoff, Otto: Französisches Kunstleben im Jahre 1924
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https://doi.org/10.11588/diglit.22444#0305

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Herauxgeber: iXdOlptl Donüill

7ahrgang 1924, 1./2. Jiiniiaefi:

fvamöfißbes Kun(i(ebeta im 7abt?e 1924

üon

Otto QVautoff

Der Kunst'historiker iDr. Otto Grautoff in Berlir.
sohrieb für den „Kunstwanderer“ eine Reihe von Auf-
sätzen iiber seine jüngste Studienreise durch Frank-
feioh. Wir veröffentiichen ’heute den ersten von diesen
Aufsätzen Grautoffs.

| er berliner Zeichner George Grosz ist in Paris
gewesen. Hin französischer Freund von ihm, den
ich kenne, und den Grosz für einen Anti-Bourgeois, für
einen Konununisten und Anarchisten hielt, hat ihm mit
den Worten empfangen: „Ihre deutscbe Revolutions-
ideologie hätten Sie an der Grenze zurücklassen sollen.
in Frankreich ist man nur in den Jahren des Stürmens
und Drängens Anarchist. Wer sich durchgesetzt hat,
wird zum Bourgeois. icli fühle mich anerkannt und
werde gelesen. Meine kommunistische Periode iiegt
hinter rnir.“ Diese überlegene und etwas maliziöse
Selbsterkenntnis läßt sicli vortrefflich einer Charakte-
ristik des französischen Künstlergeschlechts von lieute
voranstellen. Die Bilanz, die ich vor vier Jahren in
einem in Deutschland heftig befehdeten Buch über die
französische Kunst der Gegenwart zog, ist hente noch
zutreffender als 1920. Der revolutionäre Strudel der
Jugend von 1910 bis 1918 hat sicli beruhigt. Der Strom
der Kunstentwicklung fließt wieder im 'Hal des Ge-
setzes. Der Geschmack ist wieder das Kriterium für
Bilder und 'Skulpturen, für Möbel und Stoffe. Weder
thematisch nocli formal begegnet man in Frankreich
einem Geiste der Auflehnung, des Spottes, des Hohnes
und einem Zerstörungswillen oder ungezügelten Sucher.
willen. George Grosz, dessen Talent in Frankreich
geschätzt wird, wurde kürzlich von der Revue rhcuane,
der Zeitsclirift des französischen Kriegsministerimns

gelegentlich einer Buchbesprechung als Jllustrator vou
Clara Viebig „das rote Meer“ und damit als Charakter-
zeichner der Deutschen im Kriege ausgcbeutet. Es ist
anzunehmen, daß die böse, zornige, grimmige Stim-
mung, in die er sich vcrbisscn hat und die ihm verhäng-
nisvoll werden kann, durch Paris gemildert wird, denn
die Lehre dieser Stadt besteht heute noch im Ausgleich,
in der Beruhigung der C.egensätze, in der unablässigen
Erneuerung der schönen Form. Französische Kunst
auch der Gegenwart überwindet sclmell alle Entwick-
lungskrämpfe nnd findet sich wieder zuriick zur Aumut
und G.razie, znr Einfachheit und Natürlichkeit — ldeale,
die in Deutschland gering geschätzt werden. Denkt
man vor französischer Kunst einmal an Deutschland, so
ruft mau sich am liebsten die Älteren: Liebermann,
Slevogt, Corinth und Kolbc ins Gedächtnis, auch sie
siud schlicht, sachlich und frei von krampfhaften Prin-
zipien, wie Monet und Sisley, Renoir und Cezanne.
Was haben wir Deutsche zusammen ästhetisiert, weil
Cezanne seine Stilleben in Aufsicht gege'ben hat! Auf
die simpelste Deutung sind wir nicht gekommen. Ich
stand in seinem Atelier in Ai\ und sah den hohen Bock.
auf dem er vor der Staffelei gesesseu hat, und den nie-
drigen Bock, auf dem er die Stilleben aufzubauen
pflegte. Aus dieser Gewohnheit erklärt sich über-
rascheud natürlich die Anfsicht der Gegenstände auf
seinen Bildern.

Unter den Naehfolgern der großen Impressionisten
finden sich wenig Persönlichkciten. Die unüberseh'bare
Künstierzahl, die man als Herbstsalongruppe zusammen-
zufassen gewohnt ist, hat sich das Natnrgefühl der
vorigen Generation angeeignet, variiert ihre Bildform

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