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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Heft 2
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Lier, Leonhard: Zur modernen Dramatik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0029

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gegenseitige Suggestion die Stimmung beherrschen.
Jn diesem Sinne ist ihm auch Sudermann weit mehr
verwandt, als er etwa mit Hauptmann Gemeinsames
hat. Auch Sudermann verdankt seine Ersolge und
Massenerfolge weit mehr dem äußeren Glanze, der
Technik, namentlich aber einer gewissen modernen
Phraseologie, als der inneren Gediegenheit und
schlichten Wahrhastigkeit. Betrachtet man die Bühnen-
ersolge Wildenbruchs und Sudermanns von diesem
Gesichtspunkte aus, so wird man erkennen, daß es
mit dem Siege der schlichten Wirklichkeitskunst auf
deutschen Bühnen noch gute Wege hat. So war denn
die Hossnung der voreiligen Propheten vom Bühnen-
glücke Florian Geyers von vornherein trügerisch
und auf falsche Voraussetzungen ausgebaut. Die Ent-
täuschung hätte solgen müssen, — selbst wenn Florian
Geyer gewesen wäre, was er nicht ist, ein realistisches
historisches Drama.

Der Gedanke, von dem Gerhart Hauptmann
beim Entwersen seiner Dramas ausging, war gewiß
ein fruchtbarer, ja ein notwendiger. Schon in den
Webern, die durchaus geschichtliche Tragödie sind,
sprach sich die Erkenntnis aus, daß die moderne
Dichtung von dem individuellen Falle zu dem Ge-
schicke der Menschheit vordringen müsse. Die Weber
sind ein solches Lied von Menschenschicksalen, das um
so mächtiger ergreifen mußte, als dieses Schicksal
einer vergangenen Zeit noch nicht überwunden ist.
Zum ersten Male seit dem Tell ward das Volk selbst
wieder der Held eines Dramas, und der Dichter
hatte für diese eigentümlich geartete Ausgabe eine
entsprechende Form gesunden, so sehr sie den Schul-
regeln der Dramaturgie auch widersprechen mag.
Hauptmann, der von allen modernen deutschen Dra-
rnatikern wohl das größte Talent zur objektiven Er-
fassung der Dinge besitzt, trat hinter seinen Helden
völlig in den Hintergrund, ja er ließ sich vielleicht
vom Stosf allzu sehr beherrschen und fand das er-
lösende Wort des Dichters, der über die Wirklichkeit
hinaushebt, nicht. Aber es war doch einmal ein
großer Wurf, ein Hinausdringen über das eigene
liebe Jch zu den höchsten Menfchheitsproblemen, so
unbeguem sie diesem oder jenem sein mögen.

Und was gruppiert sich nun um die Weber
herum von früheren und fpäteren Werken der Mo-
dernen? Man kann es nicht leugnen, der Gesichts-
kreis ift sehr eng, sast drehen wir uns in einem Kreise
geschlechtlicher Probleme und Vererbungstheoreme.
Es ist als Reaktionswirkung begreiflich, daß das graue
Elend, das Los der Enterbten, das Los der Dege-
nerierten im Drama eine absolute Herrschast anzu-
sprechen begann. Gegenüber dem Glanze, der soge-
nannten Schönheit, erscheint das Blasse, das Hüß-
liche auf eine Zeit lang immer zunächst als das

allein Wahre. Man stürzt von einem Extrem in das
andere. Man sah eine Zeit lang den größten
Gegensatz des Lebens im Vorderhause und im Hinter-
hause; der Gegensatz der Klasse, des Vermögens be-
herrschte die Gemüter, die soziale Lendenz, die be-
herrschende der Jahrhundertneige, zwang auch den
Dichter in ihren Bann. Viele von ihnen waren
selbst Opfer der sozialen Lage und fühlten sich als
geborene Herrennaturen, nur leider nicht in der
Lage, ihre Gaben auszuüben, es sei denn im engsten
Kreise. Einige wenige trug der Erfolg empor, und
sie gerieten in die Versuchung, mit dem, was einst
ein Schrei der Not war, nun, weil es Echo fand,
ein Geschäft zu beginnen. Den Glücklichen fehlte es
an Nachahmern nicht, die aus der künftlerischen
Methode mit unzureichenden Kräften eine Schablone
machten. Dazu kam, daß das Literntentum als
Lebensberus mehr und mehr überhandnahm. Den
Genossen schien das eigene Schicksal das bemerkens-
werteste und einer aus Papier, nicht aus dem Leben
genährten Phantasie entsprangen ungezählte Literatur-
helden, kämpfende Künstler, ringende Musiker, so daß
es manchmal scheinen mochte, als sei die Welt in
Tintenfaß und Farbenkasten beschlossen. Jn diesem
engen Kreise fehlte es an großen Thaten, dagegen
war ein Ueberreichtum vorhanden an allerhand
kleinen und kleinften psychologischen und sittlichen
Problemen, die nun aus wahren Füllhörnern auf
die Menge in Gestalt von Dramen, Novellen und
Romanen einströmten. Es fchien die Welt zu be-
wegen, wenn eine Dirne zur moralischen Frau um-
gewandelt werden konnte, und mit echt deutscher Phi-
listerhaftigkeit dünkte man sich groß, das Ungewohnte,
Unerlaubte kühn und keck in die Welt zu schreien.
Seht, was ich für ein freier Kerl bin! Dabei ver-
wechfelte man Freiheit mit Ungezogenheit, Wahrheit
mit Behauptung. Alle diese Auswüchse des modernen
Literatur-Hexensabbaths, der sich wer weitz was
dünkte und über die Größen der Vergangenheit keck
hinwegspringen zu können meinte, drangen auch in
das Drama ein, und es wird viel Zeit kosten, sie
wieder auszumerzen. Wir wollen das Tüchtige, das
geleistet worden, durchaus nicht verkennen. Das
Losungswort „Wahrheit" war, wenn es richtig befolgt
wurde, entschieden das Wort der Zeit auch dem
Drama gegenüber, das von der Tradition der Bühnen-
routine, der Sensation nach französischen Mustern,
beherrscht wurde. Nirgends leichter als auf der
Bühne mit ihrem geborgten Glanze bürgert sich als
Wirklichkeit ein, was einmal gefiel, von keinem Punkte
aus scheint der Weg zur Natur schwerer zu finden
als von der Bühne aus, deren grelle Schlaglichter
die Augen blenden. Die Rückkehr zur Natur, zur
Schlichtheit war geboten. Aber abgesehen von wenigen
 
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