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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 10.1896-1897

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Lier, Leonhard: Zur modernen Dramatik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11731#0030

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Ausnahmen fand man keine Wahrheit, wenigstens
keine allgemeine, man war selbst wieder Partei ge-
worden und engte sich durch Voreingenommenheiten
das Bild der Welt wieder ein. Fast ausschließlich
blieb man in einer kleinbürgerlichen Welt, in deren
Kreise die Klänge aus dem Streben und Ringen der
Menschheit nur leise und verschwommen drangen.
Man ward Nörgler, Pessimist und verlor das Auge
sür das Allgemeine. Jnsbesondere fehlte der geschicht-
liche Blick, das Ersassen der Gegenwartsprobleme
aus einer weitblickenden Erfahrung, und man hatte
die Folgen des absichtlichen schroffen Bruches mit
der Vergangenheit an eigenem Leibe zu verspüren.
Ohne Anlehnung an Muster ging es nicht ab, und da
man die eigenen verschmäht und der Namen Lessing,
Goethe, Hebbel, Ludwig nicht gedacht, griff man zu
sremdartigen, verkannte vielsach deren nationale Be-
dingtheit und Eigenart und nahm sie kurzsichtig als
„germanische" an. Jn diesem Sinne irrte man sich
namentlich an Jbsen, man gewohnte sich die Welt
durch die Brille dieses nordischen Sonderlings anzu-
sehen und verlor die Fühlung mit dem Empfinden
des eigenen Volkes, das doch ein wenig freier, größer
war, als das dekadente Geschlecht, das Jbsen schildert.
Das mehr wissenschastliche, als künstlerische Jnteresse,
das man an den psychologischen und pathologischen
Vorgängen in der Mehrzahl der Jbsenschen Dramen
nahm, wirkte durchaus irreführend. Man strebte
mehr nach Erkenntnis als nach Gestaltung, war mehr
Forscher als Dichter, und zwar suchte man wiederum
rnehr das Jndividuum zu erforschen als den Sinn
des Lebens auszudeuten. Es kam eine Zeit der Ent-
deckungsreisen, die jetzt noch nicht beendet ist. Schien
doch plötzlich das Heimische, mit dem man blind in
den Tag gelebt zu haben vielleicht nicht mit Unrecht
meinte, als ein Fremdes, Ungewohntes, dem gegen-
über man es sür notwendig hielt, wieder sehen zu
lernen und zu lehren. Das letzte Jahr hat uns eine
ganze Reihe von Entdeckungsberichten aus dem
Lande der modernen Frauen gebracht. Diese erkennt-
nistheoretische Kunst ist auch aus die Bühnen ge-
drungen, wo sie am wenigsten geeigneten Raum
sindet. Wie alle Kunst, so sordert vor allem das
Drama nicht Erkenntnis des Lebens, sondern das
Leben selbst. Das moderne Drama wird erst dann
reif sein, wenn es von der Erkenntnis zum Leben
selbst sortgeschritten ist, wenn es nicht mehr lehren,
sondern unmittelbar ergreisen will. Hauptmanns
Drama Florian Geyer ist aus der Stufe zwischen
Erkennen und Leben stehen geblieben. Es ist weit
mehr das Werk eines sorgsamen Kulturhistorikers als
das eines Dichters und bereitet daher den Genossen
vom historischen Fach weit mehr Genuß als dem eine
. Dichtung suchenden Leser. Wir sind weit entfernt davon,

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dem Erkennen den Krieg zu erklären, wir sordern
es als Bedingung des künstlerischen Schassens; sobald
aber das Schaffen beginnt, muß das Erkennen über-
wunden, das Erkannte so sehr in Fleisch und Blut
des Dichters übergegangen sein, daß der Schaffende
srei und nach den höheren Gesetzen des Kunstwerkes
mit ihm schalten und walten kann. Zu dieser Frei-
heit des Beherrschens ist Gerhart Hauptmann, wie
so viele seiner modernen Mitkämpfer, in Florian
Geyer nicht vorgedrungen, er sah nur das Zeitbild
— und zwar mit einer Schärfe und Genauigkeit im
Detail, die Staunen erregt, — aber nicht das Kunst-
werk, es gelang ihm nicht, sich von dem Stoff zu
emanzipieren und von der Wahrheit der Einzelbeob-
achtung bis zu jener Höhe der künstlerischen Aufsas-
sung sich emporzuschwingen, der die Dinge in der
richtigen Perspektive erscheinen. Es ist nachgerade
kaum mehr zu begreifen, wie Jrrtümer über die
Grenze der Kunst so beharrlich festgehalten werden
können, wie von oielen Modernen. Jeder Künstler
ist gezwungen, eine Auswahl zu treffen, vor allem
der Bühnenkünstler, der an die Grenzen des Raumes
und der Zeit und an die szenischen Mittel gebunden
bleibt. Sich diesen Beschränkungen beugen, heißt
noch lange nicht der Natur, der Wahrheit etwas ver-
geben, sondern nur das Wesentliche von dem Zu-
sälligen, das Sein von dem Scheinen trennen.
Mögen Maler immerhin einen Wald malen, dessen
Baumkronen man nicht sieht, oder Menschen, deren
Rumpf den Bilderrahmen zerschneidet, — die Bühne
verträgt derartige Experimente der Willkür, ein Ab-
schneiden der Handlung, der Charaktere nicht, sie
fordert strenge Jnnehaltung der durch die Verhält-
nisse gegebenen künstlerischen Bedingungen. Es ist
nicht abzusehen, warum nicht auch die moderne Wahr-
heitskunst, so lange sie nur wahrhaftig bleibt, diesen
Regeln sich beugen, aus ihnen Vorteil ziehen sollte,
ohne ihr Wesen zu verleugnen.

Die Verkennung dieser Gesetze hat Florian
Geyer neben der Unfreiheit des Dichters gegenüber
seinem Stoffe den schwersten Schaden gethan. Das
ist um so mehr zu bedauern, als der Versuch, histo-
rische Geschehnisse von allgemeinster Bedeutung für
die Menschheit im modernen Sinne im Drama zu
verwerten, des entschiedenen Beifalles würdig ist.
Hier ward ein Schritt aus der Enge in die Weite
gethan, der als solcher, obwohl er nicht zu dem
höchsten Ziele führte, vorbildlich bleiben wird. Weite
und Größe des Blickes, Allheit der Empfindung, Ge-
sühl für Licht und Schatten, Ablegung gesellschaft-
licher, politischer und künstlerischer Vorurteile, Zurück-
gehen zu den frischen Quellen echt deutscher realisti-
scher Kunst, das ist es, was unseren modernen
Dramatikern not thut! Leonbard Lier.
 
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