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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 7 (Aprilheft 1930)
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Umschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0089

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keit zu diesem ztveifelnden Hineinhorchen
>'n die Fragwürdigkeiten der Seele und
der Persönlichkeit, und höchstwahrschein-
lich werden immer wieder Zeiten koni-
men, in denen die Problenie dieser dunk-
len Regionen austauchen. Aber der
Mensch, der in den Rätseln dieser Re-
gionen verfangen blcibt, der nicht aus
ihnen einen klaren Weg zur gesicherten
Wirklichkeit und Alltäglichkeit anzugeben
weiß — der hak im Äugenblick keiu
Recht, sei'ne Mitmcnschen von der Szene
her anzureden.

Wer heute das Ohr der Menschen haben
will, muß daö ganz bestimmte Erleb-
n i s der modernen Ernüchte -
rung gehabt habcn. Er muß beweisen
können, daß er die geistige Weltflucht,
das protestlerische Abseits, die Jch-Durch-
wühlungen der individualistischen Ge-
schlechter vor uns in sich aufgenommen
und verarbeitet hat.

Was er mit dieseni Ernüchterungs-Er-
lebnis weiter anfängt, wird von seiner
Kraft und Tiefe abhängen. Es gibt die
Möglichkeit, eS sehr oberflächlich zu fas-
sen. Dann kommt es zur Thronerhebung
öer Reportage, zum geistlosen Koket-
tieren mit der Sachlichkeit der Sachen;
es kommt dann zu dem Aberglauben, daß
alle die Fragen, die in Jahrtausenden
das Denken und Glauben der Menschen
beschäftigt haben, heute wie mit dem
Schwamm ausgewischt und daß wir
mit einer neuen, überparadiesischen Ein-
heitlichkeit unsres MenschenwesenS be-
schenkt sei'en. Aber daS alleS ändert
nichtü an der Tatsache, daß zum Heute
nur derjenige gehört, der die Ernüchte-
rung faktisch erfahren und die kühleLuft
moderner Berständigkeit, moderner Per-
sönlichkeit- und Weltgewißheit einnial tief
in die Lungcn gezogen hat.

Der Erfolg des D ö b l i n schen Romans
„Berlin Alexanderplah" (S. Fischer)
erhält von hier aus seinen guten Sinn.
Ob er seine Mittel immer richtig ge-
wählt hat, ist eine Frage zweiten Ran-
ges; entscheidend bleibt, daß er zur Füh-
rung seiner Dichtung die Jdee genom-
men hat, einen Menschen aus der
Schwüle der Jch-Verfangenheit und des
kindlichen Trotzes in die Wirklichkeit zu
geleiten. Mag tausendmal diese neue
Wirklichkeit des Franz Biberkopf iiii'
nötig sarkastisch, überflüssig grell und
hart gegriffen sein: das geistesgeschicht-
lich wichtige Motiv ist einzig und allein

dieses Aufwachen zur Nüchternheit, daS
HerauStreten aus der Subjektivität, die
Anerkennung einer Wirklichkeit, die sich
unseren Träumen und Forderungen nicht
ohne weiteres fügt.

Wir wissen alle, daß eine Reihe von
Zeitgenossen diese Ernüchterungstendenz
als eine Auffyrderung zu frenetischer
Geistentäußerung mißverstanden hat.
Übertriebene, kindische Hoffnungen, der
Mensch werde fortan ohne Kunst, ohne
Konflikte, ohne Seele auskommen kön-
nen, haben sich daran angeknüpft. Aber
mitten im Kampf gegen diese Jrrtümer
muß man sich bewußt bleiben, daß der
Zug zur Ernüchterung der eigentliche, ver-
änderte Fortschritt dieses Zeitabschnittes
ist, dem wir alle eine Belebung uud
neue Krast verdanken.

Es ist sehr bezeichnend, daß heute erst
das abschließende Wort über die heil-
losen, in subjektivischen Traumreichen
verfangenen Seelenmenschen der Vor-
kriegszeit aussprechbar geworden ist.
Dela Balüzs, der ungarische Revolu-
rionär, hat es gesagt in seinem Romau
„U nmögliche Menschen" (Rütten
L Loening, Frankfurt a.M.). Oer Bo-
hemien, der Fanatiker der Jnnerlichkeit,
der freizügige, nirgends im Leben ange-
siedelte Jntellektuelle, der schrankenlose
(fndi'vidualist, der Mensch des I'srt pour
l'srt und des dandystischen ocli proksnum
volZus — dieser „unmögliche" Mensch,
in dem es töricht weltlose und satanische,
oft aber auch edle Züge geistigen Stol-
zes und seelischer Reinheit gab — hier
in Baläzs' Roman (der eine bedeutende
dichterische Leistung ist) tritt er auf und
agiert sozusagen seinen eigenen Nckro-
log. Wir waren eine letzte Generation,
sagt er von sich. Unsere ganze Geistig-
keit, unsere tiefen Seelenschmerzen waren
nichts als Leerlauf unseres LebenS. Wir
hatten nirgends Anhaftung, wir waren
Gespenster, Unmenschen, Vagabunden
und Ausgesiedelte, die ihre Kräfte in
Jronie und Protest vergeudeten, weil
sie an keine Wirklichkeit Anschluß fan-
den. Baläzs betrachtet „Seele" gerade-
zu als eine Krankheit. Genauer: wo
„Seele" ein von der Wirklichkeit ge-
trenntes Eigenleben führt, wo sie nichl
in der Wirklichkeit gebunden ist, da liegt
eine schwere Störung vor. Balüzs sucht
die Schuld an dieser Störung nicht
beim Menschen und seiner geistigen Welt-
ablehnung, sondern bei der politisch-

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