Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 7 (Aprilheft 1930)
DOI Artikel:
Umschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0090

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
sozialen Zuständlichkeik: ihni wird das
Dorhandensein von freigesehtem „Geist"
nnd ungebnndener „Seele" zum Auf-
ruf, eine Wirklichkeit, die nicht mehr
den ganzen Menfchen biuden kann,
zu reorganisiereu. Jch will BalüzS in
diese Argumentation, die die Wege des
historischeu Materialiomus geht, nicht
folgen. Jch glaube, daß die Weltab-
lehnung Schopenhauers, der Dandys-
inus Baudelaireü und Wildes, der grund-
legeude Konflikt in Strindberg nicht in
den pvlitisch-sozialen Zuständen ihre Ur-
Sache haben. Jch glaube vielmehr, daß
diese Zustände samr den genannten Er-
scheinungen deS WeltverlusteS in zentralen
krankhaften Deränderungen begründet
sind, die mau am eigeutlichsten faßt,
wenn mau sie geistig faßr.

Aber wie dem auch sei: die Erkran-
kung, die in dem ich-berauschten, welt-
losen, „unmöglichen" Jntellektuellen der
Vorkriegözeit gegeben war, hat Baläzs
richtig geseheu und mit großer Kraft
dargestcllt. Er hat gesehen, daß eine
Ernüchterung not war, eine neue An-
bindung an die Wirklichkeit. Er hat ein
Sttick Geistesgeschichte in dichterischer
Gestalt gegeben und damit einen tvich-
rigen Beitrag zum Verständiüs der Ge-
genwart geliefert. Denn weun über-
all in der heutigen Welt eine geheime
Schwerkraft zum „Wirklichen" zieht,
dann liegt darin zuin großen Teil ein
Ergebnis des Jrrens und des Leidens
jener Freizügigen und Heimatlosen, die
die Bezirke der gespenstischen Gegen-
welten nach allen Richtungen durchirrt
haben und öas Wissen mitbrachten, daß
dort für den lebendigen Menschen nichts
zu holen ist. W i l h e l m Michel

2lnton Wildgans, „Bnch der Ge-
dichre"

(Verlag L. Slaaikuiami, Leipzig)

/7-^arbe sorgsam ausgelesener Ahren aus
^-"der liirischeu Ernte eines Fünfzigjäh-
rigen. Derlei Sammlungen sind jeweils
ebensosehr innerstes Muß wie Wagnis.
Nichts wird von der Zeit schneller und
schoiumggloser ivelk gemacht und als „da-
hin" entblößt, als Gefühle; also auch Ge-
dichte. Zwischen rgoo und heute aber
klafft noch dazu ein Abgrund. Weil er
seinen Eharakter im Geistigen hat, kann
es nichts nützen, ihn überspringen zu wol-
len. Wer nicht wandlimgsdurstig uud

06

wandlungSfähig genug ist, um in den Ab-
grund hinab- und auS ihm, nüt dem Er-
lebnis seiner letzten Tiefe, heil wieder
zurückzusteigen auf die veränderte Erde,
dem gelingr höchstens: Selbstvergewalti-
gung; die traurigen Beispiele kennt man.
Für eine Natur vom Schlage Wildgans'
konnte nur ein drittes Derhalten in Be-
tracht kommen. Seine menschliche und
seine dichterische Jndividualität sind in
eine so genane Eindeutigkeit und Konstanz
von der Wurzel her gebannt, daß sie
nichts andereü lim konuten, als zu riskie-
ren, den Abgrund mit dem organischen
Weiterwachsen auü den Elementen eben
öieser Wurzel zu überwinden. Beweis
dafür die zwei vorangegangenen Bücher
Wildgans'. Im „Kirbisch" kanzelte er die
veränöerte Welt nüt den Mitteln ihrer
eigeneu, durch sie erst frcigewordenen
lliiverblümtheit heruntcr; ihrem Negati-
ven eiii völliger Meister — iin Negati-
ven. Eine Ubernarbnng deö gebrand-
markten Risseü durch den Geist aber, ini
Sinn eines mutig-gläubigen Ja znr neuen
Welt, hat er gar uicht versucht. Aber
mir deshalb nicht, weil sich dieses Pro-
blem für ihn nicht stellre: ein Mensch
wie WildganS bietet sich neu einherbrau-
senden Fluten uicht initiativ, sondern be-
harreud passiv dar. Darum ging cr ge-
lasseu nach dem „Kirbisch" in das ver-
gangene Reich seiner ersten Jngcud zu
rück; „Musik der Heimat".

Zn der Tat aber sind nun die schönslen,
auch der Form nach vollendetsteu Gedichte
der Sammlimg gcrade die ihres leüten
Abschnitts, der „Betrachtung, Erkennt-
nis" heißt. Don ihnen darf man etwa
„Junges Bolk", „Vorfrühling", „Aus-
blick", „Spruch dem Dichter", „Letzte
Erkenntniü", aber anch die ganz und gar
gefühlhafte „Elegie vom Rosenberg"
ohne weiteres alü Perlen deutscher Lyrik
preiseu. Gegeu die Zeit, nicht mit ihr
siegte der Dichter iu diesen Liederu über
die Zeit. Ia eü ist sogar so, als ob ihm
just erst die verzweifelte Einsamkeit, die
er >n dieser Epoche gelitten hat, mit der
Kraft zur höchsten Reife im Gedicht ver-
golten hätte. Fauatischer Anbeter der
Landschaft seit eh und je, bettet er den
Strauß dieserGedichte andächtig zwischen
zwei Hymnen auf seine Erde ein: „Zu-
eignung an die geliebte Landfchaft", ünd
die prachtvolle „Panische Elegie". Das
ist österrcichisch, weil es echtester Wild-
gans ist. Natürlich ist österreichisch auih
 
Annotationen