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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 8 (Maiheft 1930)
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Nötzel, Karl: Die Versuchsbühne der Theaterwelt: (das russische Theater)
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0112

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Lungen Feststehenden der Dekoration, auf einrge wenige, sich immer wieder-
holende und der Linienfnhrung der Dekoration angepaßte Bewegungen be-
schränken. Einen nmen, wirklich originellen Gedanken brachte dann — gleichsalls
schon vor dem Bolschewismus, immer nur solgerichtig den Theatergedanken
als solchen zu Ende denkend — Taiross dadurch, daß er umgekehrt wie bei dem
Mamonkossschen Versuch die Anpassung der toten Dekoration an den leben-
digen Menschen verlangte und so zur Aushebung des Ebenencharakters des
Bühnenbodens gelangte (Wandeldekorationen hatte die russische Szene sreilich
schon längst vorher im weikesten Maße benutzt). Der Bühnenboden wurde nun-
mehr in eine Reihe verschieden hoher, gerader oder geneigter, ruhender oder be-
wegter, einzelstehender oder mikeinander verbundener Flächen ausgeteilt. Diese
Bühnenmöglichkeit wird wohl zu einem unverlierbaren Besitz der Theakerwelt
werden. Taiross ist hier insosern berechkigk, von einem „entsesseltcn" Theater
zu sprechen, als so seit Bestehen des Theakerö der cnkscheidcndste Trennungsstrich
vollzogen ist zwischen ihm und der Wirklichkeit. Der Jnhalt der Stücke hak
mit dieser Fragestcllung natürlich gar nichts zu tnn: Feericn sind so alt wie
die Bühne selber.

Mit dieser Erbschast, m der alles enthalten war, was die Bühne überhaupt
zu bieten vermag, sowohl an technischen Mitteln als auch an hochgespannker
Teilnahme des Publikums: an überragender Skellung dcs Theakers im Gei-
stes- und Gesellschastsleben der Nation, trat das russische Theaker in ein
Staatswesen ein, das zum erstenmal, scit die Welt bestcht, sich die Ausgabe
stellt, nicht bloß im eigenen Lande, vielmehr auf der ganzen Erde die Regelung
des Gemcinschaftslebcns nach dem GrundsaH der gesellschaftlich-wirtschasklichen
Gerechtigkeit durchzuseHen. Damit war zunächst und vor allem das Theater
sür alle — im weikesten Sinne — gegeben. Der llnterschied von dem antiken
Theater, das gleichfalls Angelegenheit des ganzen Bolkes war, liegt anf der
Hand. Ganz abgesehen davon, daß die wesenkliche damalige Volkseinheit, die
religiöse, heuke fehlt, ist der moderne Bolkskörper auch noch in ciner vor allem
durch Bildungsstand und Welkeinstcllung bestimmten Weise gesellschastlich
gespalten, und gerade in Rußland — infolge zwcihundertjähriger Versklavung
der Bolksmasse in der Leibeigenschaft — ganz besonders tiesgehend und immer
noch unüberbrückbar. Dementsprechcnd stand das russische Theater — was
Ausdruck bzw. Berstandenwerden anbetrissk — vor ganz ncuen, der europäischen
Enkwicklung vorauseilenden, jeglichen Borbildes cntbehrenden Ausgaben. Da-
bei aber war ihm die sreie, nur aus dem Eigenwesen fußende Anpassung an
diese ganz neue Ausgabe verwehrk. Mit der im Bolschewismns znr Herrschast
gelangken Gesellschastslchre des Marxismus ist ja ein iiinerlich sreies Theater
schon deshalb unverembar, weil es hier bloß als staatliches Hilssmitkel gelten
kann. Als solches sreilich erfährt es um so stärkere WertschäHung, als es
viclcrlei Berwendung zuläßt. Mittelst seincr kann man zunächst das Volk
auch in schweren Zeiten unterhalken, und das bedeutet: es von dem ablenken,
was es nicht sehen soll, und ihm das erträglich machen, was cs dulden muß.
Das Theater kann aber auch aktiven Staatsdienst leisten. Mittelst seiner kann
man die GesellschaftsgrundsäHe, auf die sich der heutige russische Staat gründet,
in die Köpse und Herzen hämmern (und Rußland dient dem Bolschcwismns
grundsäHlich bloß als SprungbreLL zur Weltrevolukion).

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