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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 8 (Maiheft 1930)
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Hammelsbeck, Oskar: Die Familie, und was das heutige Leben von ihr fordert
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0140

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alren Skils war das zuletzl uichl niehr in Ordnuug. Die Zei'Lereigmsse uud
äußereu Wandlungeu überstürzlen sich, so daß die — an sich durchaus am
Platz — auch in der Familie geüble konservalive HalLung sich verabsolukierle,
einkapselle und die Zeilbindung, das heißl den Schrill neben ihrer Jugend
verlor. Das „Zungbleiben mil den Kindern" geschah nichl mehr. Ein heu-
liges Beispiel: Eine Wilwe ist ängsllich besorgl, ihre drei erwachsenden
Kinder „gul" zu erziehen. Jhre lcbendige Lebensbeziehung war zu Lebzeilen
ihres Gallen, vor dem Kriege, nnd was sie sich damals als ihr Wissen um
gule Bildung, Sille und Kunst aneignele. Die Gegenwarl aber erscheinl ihr
als Ausbund der Sillenverderblheit, des Schundes und der Jnhaltlosigkeik.
Die „Drei-Groschen-Oper", die sie sah, nn'ßk sie an ihrem Zdeal von der
klassischen Kunst her, der siktlich reinen. Sie findel keinen Zulrilk zur hen
ligen Wirklichkeil, sie suchl ihn nichk, sie isl innerlich nichk dazu imslande.
Für sich allein ist sic im Nechl; llnrechk wird, weil sie es zum Maßslab für
die Familie machk. Sie behülek und erziehl ihrc Kinder in eincr vcrgangenen
Welk. Welche Kalaslrophe enlstehl, wenn eines Tages der unerbilklichc
Schritl in die heulige verlangk wird, — oder welches Phi'lislertum, wenn er
nie geschiehl! Zn dieser Fannlie wird slrcng an der christlichcn Neligion fest-
gehallen. Die Religion wird durchaus als fikllicher SchuH gefühll. Die
Religion gewährk aber diesen Schuh nicht mehr, wenn die Gegenwarls-
bezogenheil anfgegeben wird — denn: religiöses Leben isl nur in lehendig er-
fülller Gegcnwarl da. Umgekehrt isl das Argumenl der chrisllichen Familien-
fürsorge richlig, daß das Fehlen der Religion den SiklenschuH in Frage slellt.
Elkern schlagen die Hände über dem Kopf zufammen, wenn die Tochler „plöH-
lich" ein nneheliches Kind bckomml und damil ersl das frei'zügige Lebcn osfen-
bar wird, das sie außerhalb der Familie gcführk hak. Es nüHL nichls, sie
„doch so gul erzogen nnd so viel Verkraiien zu ihr gehabl zu haben". Aber
sie halken keine Religion mehr; eine liberalislische Familie isl ein Widersprnch
in sich.

Diesc Fanülien süid nichl in Ordnung. Sie sind krank, weil sie das Wunder
der nalürlichen Gegebenheik nichl erleben und nichk verwirklichen. Diese
Wirklichkeil isl da, wenn sich das Jungblelben mil den Kindern nichl nur in
der Teilnahme an ihrcm Spiel nnd Werden erschöpfl, sondern sich anver-
wandelt an Spiel und Werden in ihrer besonderen Gegenwärligkeil. Die
Wirklichkeil dieses Wunders isl da, wenn die Lebensfülle darin erfaßl wird,
daß die verschiedenen Lebcnsalter gemcinsam da sind und sich ancinander aus
wirken können. Eine solche Verwirklichung ist nur möglich, wo die Ankeil-
nahme am anderen Neenscheu nichl geselljchafklich-dislanziell vor sich geht,
sondern in blukhafler Schicksalsverknüpfung. Ein Glied lcbl im andern, krägt
mik an seiner Schuld und machl sein SchiPal zum eignen. Das einzelnc Fa
milienmitglied wird sciner Jndividualität enthoben, oder, wenn das zu be
denklich ausgcdrückk erscheinl, enlhoben seiner Teilmenschlichkeil, die nun keil-
haben kann an den Menschlichkeilen der anderen Glieder. Das Gesamlerleben
machk den einzelnen erst zur voll erlebenden Zndividualikäk. Die gcreifke Er-
fahrung der Alleren dienl den unreif erfahrenden Iüngeren, aber sie wirkl
nichk blutleer, weil sie nülerfährL. Die si'LLliche Bindung aller aneinander in
der gemeinsamen Individnaliläk Familic gibl unverbrüchlichen Halk. Es

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