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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

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Heft 8 (Maiheft 1930)
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deuriiche Sprache. Eine Kunstzei'tschrifl
wie die Pariser Lslriers ci'.Vrt stellr z. B.
in jedem Hesl Arbeiten von Pieasso,
Lur?at, Leger, Arp usw. mit polynesischen,
asrikanischen, altzyprischen, merikanischen,
indianischen Arbeiten zusammen, und es
ergibt sich ost, daß das moderne Material
init dem prähistorischen oder erotischen
eine weitgehende Ähnlichkeit ausweist.
Dlese Ahnlichkeit ist keine bloß äußerliche.
Die hitzigen, massiven, setischistischen Ge-
bilde, die z. B. Picasso seit etwa zwei Jah-
ren hervorbrlngt,Iiegen nicht nur äußerlich,
sondern auch dem Wesen nach aus der
Ebene einer magisch-beschwörerischen, göt-
zenbildnerischcn Kunst. Wenn Christi'an
Zervos sagt, Picasso arbeite in dieser
Epoche gleichsam „mslgre Ini", er gehe
zur Leinwand oder an den Ton, ohne
die mindeste Dorstellung oon dem, was er
heroorbringen werde, und er arbeite
eigentlich nur noch, weil er selber ncu-
gierig sei, was unter seinen Händen ent-
stehcn werde — so deutet er eine Geistes-
haltung an, die den „unteren" (und alsv
auch den „prähistorischen", den prälogi-
schen, den vom Geist nicht mehr beherrsch-
ten) Krästen den Einbruch in die Kunst
mit Willen sreigibt. Das bcdeutet: die
Grenzen, die zwischen dem heutigen Kul-
rurmenschen nnd der magisch-schizoiden
I.Interwelt besestigt sind, werden von
eincm solchen Künstler ans Unkenntnis
überschritten.* Von der hybriden moder-
nen Verständigkcit, die in technizistischem
und amcrikanistischem Gewande unter uns
vordringt, spaltek sich die Tendenz zum be-
sinnungslosen Eindringen in geistserne
Zonen mit gleicher Hybris ab. Beide Ten-
denzen stehen zueinander im Verhältnis
einer genauen Entsprechung. Sie sind
sich kein Widerspruch, sie treiben sich wech-
selseitig hoch, sie sanati'sieren einander
und sind oft genug Bundesgenossen gegen
das Dritte: die Menschengestalt unsereS
WeltalterS und die ihr entsprechende
Kunst.

Welches der Ort dieser Kunst, also der
nichtpatbologi'schen Kunst unserer Tage

* Wobei ich absichklich bic Frage bciseike lasse,
ob dicser Anknüpsung an das Magischc nicht
ein Enrwicklungswerr, also ein historischec und
indirckter Wert innewohnen könne. Oaß jedcn-
salls die Forschung heute aus einc ganz neue
Bcschäftigung mit dcn Dor und llnterwelten
oerwiesen ist (FrobcniuS, Wirkh, Mühlestcin ,
stcht Iin'r außcr Zweifcl.

ist, das jtcllt sich angcsichts der Ausstel-
lung „Bildnerei der Geisteökranken" mit
großem Nachdruck herauS: es ist das Feld
der echten Spannung zwischen dem
„Geijt" und der magischen Unterwelt.
Jene modernen Versuche, im Anschluß an
primiti've und exotische Gebilde zu einer
nenen Verdichtung und „Vereigentli-
chung" des Kunstwerkes zu kommen,
gehen richtig insoserne, als das Feld der
Kunst tatsächlich weit in die prälogische
und magische Zone einschneidet. Kunst
liegt, vom Geist auS gesehen, tatsächlich
in derselben Nichtung, in der das Primi-
tive, das Ekstatische, der Traum, die Ma-
gie und, ohne Zweisel, auch die Psychose
liegt; daher sich denn der Künstler mit
den Menschcntypen dieser Bereiche weit-
gehend vcrständigen kann. Aber nun er-
hebt sich die viel wichtigere Frage, wie
weit der Künstler in diese Unterwelten
eindringen dars. Da ergibt sich: nur ge-
nau so weit, wie seine Beziehung zu der
Menschengestalt unseres Weltalters, die
in Geist, Jch, Bewußtsein gipselt, unge-
fährdet bleibt. Die Verpslichtung der
Kunst ist eine doppelte. Sie ist aus eine
echtc Teilhabe an der magisch-ekstatischen
Welt verpsllchtet -— aber ebenso unzwei-
deutig auf eine volle, ungestörte Teilhabe
am „Geist". Jhr Feld ist also ausschließ-
lich das SpannungS-Gebiet zwlschen dem
Geistund öer magischi-dämomscheuSphäre,
beide zugleich nmsassend und einbegrei-
fend. Was gänzlich außerhalb dieseS
Spannungs-Gebietes sällt, ist entweder
nicht mehr Kunst (Fall der intcllektuellen
Verdünnung der Kunst), oder eS hat
nichts mehr mit der Menschengestalt uns-
reS Welkalters zu tun (Fall dcr magi-
schen „Verdickung" der Kunst, die weiter-
hin zum Läppischen, zur vollkommcnen
Sachwerdnng des KunstwcrkeS sührt und
damit pathologisch ist).

Dieser lctztere Fall ist es, den die Ausstel-
lung „Bildnerei der Geisteskranken" über-
zeugend vorführt. Trügen diese Zeichnun-
gen, Stickereien und Holzskulpturen auch
nicht so deutlich ihre geisteskranken Jn-
halte zur Schau: schon mit ihrer indiskre-
ten, hitzigen Dinghastigkeit und Dichtig-
keit wären sie als pathologisch erwiesen.
Pros. Gruhle hat zu der Ausstcllung einen
Einführungsvortrag gehalten, in dem er
betonte, vcrschiedcne Künstler hättcn ihm
gesagt, diese Arbeiten von Geisteskranken
seien viel „stärker" als ihre eigenen Werke,
ja als die Kunst der Gesunden überhaupt.

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