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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 43,2.1930

DOI Heft:
Heft 9 (Juniheft 1930)
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Vrieslander, Otto: Heinrich Schenker
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https://doi.org/10.11588/diglit.8888#0225

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samt allen Schlüssen, die daraus gezogen toorden sind. Nur so aber, wie die Musik
in der Urlinie begonnen, nur so wird sie in ihr auch sortleben können....

Beim Anblick der Urlinien lasse man sich aber dadurch nicht ernüchtern, daß sie alle
einander ähneln in ständigen Zügen von Sekunden, in Wiederholungen oder anch in
einem Auf und Nieder, regelmäßig wie Ein- und Ausatmen. Des Künstlers Sache
ist eö eben, durch diese bestimmte Anzahl von Sekundschritten, diese Art von Wieder-
holungen, durch dieses besondere Auf und Nieder eigene Spannungen hervorzurufen,
dem Auf und Nieder wie zugleich den Urgesetzen der Stimmführung und Stufe
immer neue Spielarten von eigenen Motiven und Melodien zu entlocken und so
jeden Fall ins einzelne zu rücken; sernper iclern, 8sci non eoäern rnoäo — mehr
vermag der Künstler nicht....

Die Urlinie bietet die Auswirkung eines Grundklanges, die Tonalität auf horizontalem
Wege. s)n eben diese mündet auch das Tonsystem, bestimmt, in die Welt der Klänge
durch seine Auslese der Stufen zweckmäßige Ordnung zu bringen. Die Mittlerin
zwifchen der horizontalen Fassung der Tonalität durch die Urlinie und der vertikalen
durch die Stufen ist die Stirnmführung.

So wie die Stufen Klänge fernhalten, die ihrer auf Tonalität abzielenden Ordnung
toidersprechen, genau so hält die Urlinie Diminutionen (Motiv und Ornament) fern,
deren Spitzen und Haupttöne in ihrer Urfolge nicht einstimmen. Daher sieht man
dort, wo die Urlinie waltet, die Diminutionen so gestaltet, daß an ihre Stelle nicht
beliebig andere mit beliebig anderen Spitzen gesetzt werden können.

Die Auskomponierung zeitigt eine Baßlinie, die von den in der Tiefe deS Geistes
wirkenden Grundtönen der Stufen in Führung der Linie, des Wellenspiels der Kon-
sonanzen und Durchgänge ebenso wieder nur eine Oberstimme ist, wie der Sopran.
Daher ist der Außensatz als ein Satz zweier Oberstimmen über den Stufen zu ver-
stehen, alö ein zweistimmiger Satz, dessen Güte über den Wert der Komposition ent-
fcheidet. Jn diesem Satze nun führt die Urlinie — und hierin allein liegt die Gewähr
der höchsten Güte deS Satzes wie der vollendetsten Synthese — zu einer Auölese
von Jntervallen, die in sich das Gesetz des strengen Satzes forttragen. Nur durch
eine solche Auslese verstehen wir denn auch die Prolongationen deS freien Satzes,
die daö Gesetz nicht aufheben, es vielmehr in Freiheit und Neuheit bestätigen. Zum
Beispiel: Weichen die Jntervalle der Auslese an so vielen Stellen von jenen ab,
die sich durch die Diminution kundgeben, so gefchieht es, daß um ihretwillen oft
Ouint- und Oktavparallelen, die der Satz der Diminution darbietet, überhaupt keine
Parallelen sind. So konnten nun unsere Meister unter Beobachtung von Urlinie,
Stufe und Jntervallenauslese eine Freiheit in der Stimmführung entfalten, von deren
gewaltigem Auömaß man sich bis heute noch gar keine Borstellung machen konnte,
weil man daö Gesetz des strengen Satzes weder in seiner Tiefe begriff, noch es in
solchen Prolongationen vermutete....

Die Urlinie führt geradenwegS zur Synthese des Ganzen. Sie ist die Synthese. Jn-
dem sie in Zweifelsfällen die Handhabc bietet, über Stufe und Form zu entfcheiden,
ermöglicht vor allem sie den rechten Einblick in die Synthese.

Nur eine solche auS einer Urlinie gezeugte Synthese hat den Duft einer wahren
Melodie...."

Soweik Schenker.

N^eben den analyklsch-konstrukLwen Arbeiten laufen andere, damik zusammcn-
hängende, z. B. Einzeldarstellung der Improvisation, der Sonatcn- und
Fugenform.

Ferner dann schrieb Schenker eine Lehre der Ornamentik mit speziel-
lem Bezug auf Carl Philipp Emanuel Bach, die zugleich eine Ergän-

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